Nicht nur auf den Feldern fehlen in Großbritannien Arbeitskräfte aus EU-Staaten, die die Ernte einbringen. Auch in vielen anderen Bereichen sorgt der Brexit zunehmend für Engpässe in der Versorgung auf der Insel.

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Baufirmen suchen angestrengt nach Schlossern und Tischlern. Supermarktketten bieten potenziellen Lastwagenfahrern vierstellige Begrüßungsgelder. Obst- und Gemüsebauern fehlen tausende Erntehelfer. In vielen Branchen Großbritanniens kämpfen Firmen und Händler mit erheblichem Personalmangel. Der Grund steht für die meisten Betroffenen fest: Sieben Monate nach dem endgültigen EU-Austritt treten die Brexit-Folgen immer schärfer zutage.

In vielen Städten im Norden Englands und den Midlands, weniger in London, bleiben immer wieder ganze Supermarktregale leer. Häufig fehlen vor allem frisches Obst und Gemüse. Was Mitte Juli noch der Covid-19-App des Nationalen Gesundheitssystems NHS zur Last gelegt wurde, das unnötig viele Kontaktpersonen von Infizierten zu zehntägiger Isolation verdonnerte, stellt sich zunehmend als Dauerproblem heraus: Seit Jahresbeginn fehlen auf der Insel qualifizierte Lkw-Fahrer.

Um ein Sechstel weniger Lkw-Fahrer

Dem Branchenverband RHA zufolge saßen in den vergangenen Jahren um die 600.000 Menschen für den Warentransport am Steuer. Davon fehlt nun rund ein Sechstel. Das liegt einerseits am mangelnden heimischen Nachwuchs: Covid-19 sorgte dafür, dass monatelang die Prüfungen für Lkw-Führerscheine ausfielen. Andererseits ist eine begrenzte Rückkehr zur bisherigen Arbeitnehmer-Freizügigkeit, wie sie Spediteure gefordert haben, von der konservativen Brexit-Regierung unter Premier Boris Johnson abgelehnt worden.

Betreiber kleiner Lebensmittelgeschäfte greifen zur Selbsthilfe und setzen sich selbst ans Steuer, um sich beim Großhändler mit Waren einzudecken. "Am Wochenende gingen uns das Brot und die Milch aus", sagt Paul Cheema, Chef eines kleinen Nisa-Supermarkts in Coventry. Solche Engpässe sind Gift für 24-Stunden-Läden, die ihre höheren Preise mit ständiger Verfügbarkeit rechtfertigen. "Wir brauchen volle Regale", sagt Cheema.

Unerquickliche Verkettung

Bei der Lobbygruppe der Verbrauchermärkte wie beim Branchenverband CPA der Bauindustrie – allerorten klagen die Betroffenen über den "perfect storm", die schlimmstmögliche Verkettung unglücklicher Umstände. Wie bei anderen Nachschub- und Personalproblemen dieses Sommers fällt es den Fachleuten schwer zu beziffern, welchen Anteil der Brexit und welchen die Corona-Pandemie an der Misere hat.

Die Statistik gibt Hinweise. In der Bauindustrie ist die Zahl der Facharbeiter aus EU-Staaten in den vier Jahren bis März 2021 landesweit um mehr als die Hälfte gefallen, in London gar um 63 Prozent. Seit dem Referendum im Juni 2016 sind hunderttausende der in Großbritannien lebenden EU-Bürger in die Heimat zurückgekehrt; teils fühlten sie sich nicht mehr willkommen, teils winkten in der Heimat nach dem rapiden Währungsverfall bessere Verdienstmöglichkeiten. Kurzfristig Zimmerleute und Elektriker anzuwerben ist seit Jänner für die Firmen mit Papierkrieg und hohen Kosten von rund 10.000 Pfund (11.766 Euro) pro Mitarbeiter verbunden.

Massiv höhere Kosten

Über massiv höhere Kosten klagen auch viele Obst- und Gemüsebauern. In der Grafschaft Kent, dem traditionellen "Garten Englands", fehlen manchen Firmen 90 Prozent der benötigten Erntehelfer – ziemlich genau jener Anteil, den bisher Rumänen und Bulgaren erledigt hatten. "Wir stehen mit dem Rücken zur Wand", sagt Stephen Taylor von Winterwood Farms in Maidstone, dem größten Blaubeeren-Anbauer Europas.

Selbst jene, die mithilfe neuer Arbeitsvisa für einige Wochen auf die Insel kommen, lösen das Problem nicht. Laut Tom Bradshaw, Vizechef des Bauernverbands, kehrten heuer viel weniger bewährte Kräfte in ihre zeitweiligen Arbeitsstätten zurück. Bisher seien zwei Drittel der Erntehelfer Rückkehrer gewesen, diesmal kam nur ein Drittel. Die Folge: größere Anlernzeiten, geringere Produktivität. Schon verrotten Früchte und Salat auf den Feldern. Und der Mangel an Lkw-Fahrern erschwert den raschen Abtransport der Ernte, sodass verderbliche Ware im Wert von mehreren Millionen auf Abfallhalden landet. (Sebastian Borger aus London, 10.8.2021)