Leonhard Dobusch ist Professor für Organisation an der Universität Innsbruck und ZDF-Fernsehrat.

DER STANDARD hat Medienexpertinnen und -experten, Medienwissenschafter und -wissenschafterinnen, Medienpolitikerinnen und -politiker und auch Bewerber und Bewerberinnen um möglichst konkrete Ideen, Vorstellungen und Vorschläge für einen idealen ORF gebeten.

Leonhard Dobusch ist Professor für Organisation an der Universität Innsbruck und wissenschaftlicher Leiter des Momentum-Instituts in Wien. Seit 2016 vertritt er im ZDF-Fernsehrat den Bereich "Internet".

Zehn Attribute eines idealen ORF

Innovativ: Niemand weiß heute schon genau, wie der ORF in zehn oder zwanzig Jahren sein Publikum am besten erreichen wird. Sicher ist aber, dass neue Formate und neue Verbreitungswege dabei eine große Rolle spielen werden. Um diese neuen Wege zu erschließen, braucht es Raum für Experimente innerhalb des ORF genauso wie Förderung von gemeinwohlorientierter Medieninnovation außerhalb des ORF. Ein öffentlich-rechtlicher Innovationsfonds könnte hier helfen, jenen Kulturwandel einzuleiten, den der ORF für Erfolg im postlinearen Zeitalter braucht.

Postlinear: Öffentlichkeit entsteht zunehmend vermittelt über digitale Plattformen. Die lineare Logik von Fernseh- und Radiosendern verliert dadurch an Bedeutung. Wenn ich mich zwischen Sendern entscheiden muss, zählt, was zur besten Sendezeit ausgestrahlt wird. In einer postlinearen Logik ist das nicht mehr so, Sender und Sendeplätze verlieren an Bedeutung. Was stattdessen zählt, sind einzelne Sendungen, Formate und die dahinterstehenden Redaktionen sowie deren Präsentation auf digitalen Plattformen. Ein postlinearer ORF entwickelt sein Programm deshalb primär mit Blick auf digitale Verbreitungswege, seien es die eigene Mediathek oder Drittplattformen wie Youtube oder Wikipedia. Linear verbreitete Inhalte, egal ob traditionell oder als Livestream, sind weiterhin wesentlicher Teil eines postlinearen ORF-Angebots, ihnen wird aber nicht mehr alles andere untergeordnet.

Vielfältig: Beitragsfinanzierter, öffentlich-rechtlicher Rundfunk muss sich an anderen Vielfaltsmaßstäben messen lassen als privat finanzierte Medien. Gesellschaftliche Meinungsvielfalt gilt es im journalistischen Angebot abzubilden, ohne in einem bloßen Nebeneinander divergierender politischer Positionen steckenzubleiben. Vielfalt betrifft aber auch das Personal vor und hinter dem Schirm. Schließlich bedient ein vielfältiger ORF auch die vielfältigen Interessen jener, die ihn finanzieren, und zieht sich nicht auf Kernbereiche wie Information und Kultur zurück. Geschmacksfragen sind immer auch Klassenfragen. Ein ORF, der von allen finanziert wird, muss auch Inhalte für alle liefern.

Interaktiv: Seit Jahren wird am ORF-Player, dem Nachfolger für die ORF-TVthek, gebastelt. Idealerweise wird der ORF-Player aber nicht nur eine technisch überarbeitete Ausspielstätte für ORF-Inhalte. Gerade für ein beitragsfinanziertes Angebot müssen Rückkanäle für das Publikum zur Selbstverständlichkeit werden. Die Bandbreite an Interaktivität reicht von Likes über Kommentare bis hin zur Möglichkeit, Playlisten von ORF-Inhalten zu erstellen und zu teilen. Dementsprechend orientieren sich öffentlich-rechtliche Online-Angebote in Zukunft mehr an Youtube als an Streaming-Plattformen wie Netflix.

Offen: Ein zeitgemäßer ORF ist nicht nur offen für Rückmeldungen zum eigenen Programm, sondern auch offen für Inhalte von Dritten – allen voran den Beitragszahlenden selbst. Nicht als Ersatz, aber als gemeinnützige Alternative zu kommerziellen Plattformen wie Youtube schafft der ORF Räume für nutzergenerierte Inhalte. Vor allem aber eröffnet der ORF anderen gemeinnützigen Anbietern Zugänge zur eigenen, digitalen Bühne – von Kultureinrichtungen über Universitäten bis hin zu freien Medien, Blogs und Podcasts. Kuratierung und Präsentation von Inhalten wird so zunehmend zu einer zentralen Aufgabe von öffentlich-rechtlichen Medien im digitalen Zeitalter.

Frei lizenziert: Offenheit bedeutet außerdem, eigene Inhalte für die Nutzung von anderen zu öffnen. Schon heute macht der ORF über die Austria-Video-Plattform der APA tausende Stunden an Videomaterial zur Nutzung durch andere, private Medienunternehmen verfügbar. Der logische nächste Schritt ist, Inhalte im Bereich Information, Dokumentation und Magazin vermehrt gleich unter freien Lizenzen für alle frei nutzbar zu veröffentlichen. Auf diese Weise könnten die Inhalte auch in anderen gemeinnützigen Projekten wie Wikipedia landen und neue Zielgruppen erreichen. Wie gut das funktionieren kann, zeigt das Beispiel der ZDF-Dokureihe "Terra X", die mit kurzen Clips unter freien Lizenzen via Wikipedia ein Millionenpublikum erreicht.

(Werbe)frei: Völlig unabhängig von der (naturgemäß immer Schwankungen unterworfenen) Qualität einzelner Programme und Formate liegt der zentrale Beitrag öffentlich-rechtlicher Anbieter zu medialer Vielfalt darin, dass sie primär einem demokratischen Auftrag und nicht der Profitmaximierung unterworfen sind. Ein Verzicht auf Werbefinanzierung im Bereich digitaler Angebote würde dieses Unterscheidungsmerkmal stärken. Im Gegenzug müssten alle Beschränkungen für öffentlich-rechtliche Online-Angebote fallen. Die bestmögliche Erfüllung des Auftrags würde dadurch zum entscheidenden Kriterium für die Gestaltung des ORF-Angebots im digitalen Raum. Einen Teil der Verluste wegen des Wegfalls von Werbeeinnahmen könnte im Gegenzug die Umstellung auf eine Haushaltsabgabe nach deutschem Vorbild ausgleichen.

Staatsfern und demokratisch: Ihrem demokratischen Auftrag können öffentlich-rechtliche Medien wie der ORF nur dann gerecht werden, wenn sie nicht nur unabhängig von kommerziellen, sondern auch von parteipolitischen Interessen agieren können. Ein ORF-Stiftungsrat, in dem die Mehrheiten mit jenen im Nationalrat wechseln, ist hingegen nicht staatsfern genug. Wie also die Rückbindung an Gesellschaft und demokratischen Auftrag sicherstellen und den ORF gleichzeitig parteipolitischer Kontrolle entziehen? Der Ausweg wären Rundfunkschöffen, per Los ausgewählte Beitragszahlende, die mindestens ein Drittel der Mitglieder in einem vergrößerten Stiftungsrat stellen. Alle anderen müssten sich um deren Stimmen bemühen.

Transparent: Das weiterhin und notwendigerweise politische Ringen um die Ausrichtung und Ausgestaltung des ORF erfolgt öffentlich. Auch hier gilt, dass beitragsfinanzierte Medien an anderen, viel höheren Transparenzmaßstäben gemessen werden wollen als ihre privaten Pendants. In Deutschland wird es immer üblicher, Livestreams zu den Sitzungen von Rundfunk- und Fernsehräten von ARD und ZDF anzubieten. Dass sich Kandidatinnen und Kandidaten für die Generaldirektion mit ihren Bewerbungen und Konzepten unmittelbar an die Öffentlichkeit wenden, sollte demnach von der Ausnahme zur Regel werden. Im Ergebnis stünde eine öffentliche Debatte gefolgt von geheimer Wahl – also das genaue Gegenteil der aktuellen Situation mit Diskussionen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und offener Abstimmung im Stiftungsrat.

Europäisch: Ein idealer ORF leistet völlig selbstverständlich Beiträge für eine europäische Öffentlichkeit. Neue Software wie der ORF-Player wird natürlich Open-Source-basiert und gemeinsam mit anderen europäischen Öffentlich-Rechtlichen entwickelt. Auch im Betrieb werden die Online-Angebote des ORF mit jenen von ARD, ZDF, SRG und, wo sinnvoll möglich, anderen öffentlich-rechtlichen Anbietern verlinkt. Im Ergebnis entsteht so über die Zeit ein offenes und europäisches Ökosystem öffentlich-rechtlicher Medien. (red, 10.8.2021)