Jahr für Jahr (am Bild die Demo von 2017) wird in Österreich beim "Marsch fürs Leben" gegen Abtreibung demonstriert – normalerweise im Herbst. Diesen Sommer gab es eine spontane Demo, weil im EU-Parlament ein Report über freien Zugang zu Abtreibungen behandelt wurde. Mit dabei vor dem Bundeskanzleramt waren auch Vertreter von Citizen Go.

Foto: Josef Büchsenmeister

Ein Gesetz in Ungarn, das es untersagt, Menschen unter 18 Jahren Informationen über Homosexualität, Transsexualität und Geschlechtsanpassungen zukommen zu lassen. Ein Gesetz in Polen, das Abtreibungen auch bei schweren Fehlbildungen verbietet. Zahlreiche Demos – eine davon vor dem Bundeskanzleramt in Wien – und eine große Petition gegen den sogenannten Matić-Report der EU, der sich für freien Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen einsetzt. Wer steckt hinter der europaweiten Stimmung gegen Abtreibung, gegen LGBTQI, gegen sexuelle Aufklärung von Kindern und Jugendlichen und gegen feministische Politik? 17.000 von Wikileaks vergangenen Donnerstag veröffentlichte Dokumente des Präsidenten der rechtskonservativen Stiftung Citizen Go legen nahe, dass hier viele Fäden zusammenlaufen.

Vordergründig arbeitet Citizen Go mit Online-Petitionen wie etwa auch Change.org. Viele dieser Petitionen richten sich gegen feministische oder LGBTQI-freundliche Politik oder Inhalte. Eine der derzeit erfolgreichsten Kampagnen dreht sich um eine Netflix-Serie, in der Jesus verhöhnt werde. Die Anti-Matić-Petition erreichte 412.000 Unterstützerinnen und Unterstützer. Es finden sich aber auch einige Petitionen gegen Corona-Maßnahmen an Schulen – eine Aktion hat den Stopp der Impfaktion im Wiener Stephansdom zum Ziel.

15 Millionen Unterstützerinnen und Unterstützer

Mittlerweile vertrete man 15 Millionen Bürger weltweit, heißt es auf der Website. Die geleakten Dokumente – sie dürften aus einem 2017 stattgefundenen Hack des Dropbox-Zugangs von Ignacio Arsuaga, dem Gründer und Präsidenten von Citizen Go, stammen – zeichnen nach, wie dieser Aufstieg geplant wurde. Und sie zeigen, wie versucht wurde, Politikerinnen und Politiker für erzkonservative Politik zu beeinflussen. Die deutsche Zeitung "Taz", aber auch Medien aus Italien, Spanien und Mexiko hatten früheren Zugang auf den Leak und recherchierten auch, was mit Citizen Go nach 2017 passierte.

Wikileaks betitelt den Leak mit "The Intolerance Network". Citizen Go gebe vor, vordergründig eine Grassroots-Organisation zu sein, arbeite im Hintergrund aber mit vielen rechtspopulistischen Parteien zusammen oder habe diese mit aufgebaut – etwa die Partei Vox in Spanien. Die Werte der Stiftung seien im ultrakonservativen, christlichen Lager verankert. Weil ultrarechte Parteien in der Vergangenheit an Stärke gewonnen hätten und diese Stärke auch Angriffen auf LGBTQI- oder Frauenrechte zu verdanken sei, sei es laut Wikileaks legitim, Daten derjenigen zu veröffentlichen, die global für diese Angriffe lobbyiert hätten.

Link nach Österreich

Wer nach einer Österreich-Verbindung sucht, stößt auf einen Namen: Gudrun Kugler, ÖVP-Nationalratsabgeordnete. In einem Dokument vom November 2014 wird sie als Kampagnen-Managerin für den deutschsprachigen Raum vorgestellt. In einem anderen Dokument geht es um den Vertrag zwischen Citizen Go und der PR-Agentur ihres Mannes. Martin Kugler soll die Plattform im deutschsprachigen Raum aufbauen. In dem Vertrag werden aber auch finanzielle Details geklärt, etwa dass Citizen Go pro 1.000 Unterschriften 100 Euro bezahlt – genau so viel wie für jeden "Appeal" – was damit genau gemeint ist, ist unklar. Ebenso unklar ist, wie der Auftrag schlussendlich konkret aussah. Martin Kugler war für den STANDARD am Mittwoch nicht erreichbar. Bei dem geleakten Dokument könnte es sich auch nur um einen Vorschlag handeln, eine Unterschrift findet sich darauf nicht.

Kugler: Keine inhaltliche Zusammenarbeit

Gudrun Kugler betont, dass die Kontakte einerseits vor ihrer politischen Laufbahn entstanden seien – diese startete sie mit dem Einzug in den Wiener Gemeinderat 2015. Und andererseits habe es sich um einen Auftrag für die PR-Firma ihres Mannes gehandelt, "ein Auftrag wie jeder andere". Die inhaltliche Verantwortung sei zu keinem Zeitpunkt bei ihr gelegen. Ende 2014 sei die Sache auch für ihren Mann wieder erledigt gewesen, seither habe es keine Kontakte mehr gegeben. Für ihren Mann und sie sei wichtig gewesen, dass man hier eine Plattform im Aufbau unterstütze, bei der die Zivilgesellschaft Anliegen einbringen könnten. "Aber ich als Mandatarin mache selber keine zivilgesellschaftlichen Kampagnen, das geht nicht zusammen."

Was Kugler schon tut – und worauf sie auch Wert legt –, ist, Demonstrationen zu besuchen. So auch den spontan organisierten "Marsch fürs Leben" in diesem Sommer. Normalerweise findet die Veranstaltung von Abtreibungsgegnerinnen und -gegnern immer im Herbst statt. Weil im Juli im EU-Parlament die Abstimmung über den Matić-Report anstand, wurde kurzerhand eine Demonstration dagegen abgehalten, mit dabei auch Vertreterinnen und Vertreter von Citizen Go. 1.000 Menschen zogen vor das Bundeskanzleramt – ausgerechnet.

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Dicke Luft beim Marsch fürs Leben

Dass die Organisatoren just hier ihre Anliegen lautstark vertraten, soll den ÖVP-Politikerinnen und -Politikern vor Ort gar nicht gefallen haben. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Erstens ist Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) für EU-Abstimmungen nicht primärer Ansprechpartner, und zweitens stand bereits fest, dass alle EU-Abgeordneten der ÖVP gegen den Report stimmen würden. Der Report wurde übrigens trotzdem angenommen – eine große Niederlage für die Lobbyisten von Citizen Go.

Neben Kugler waren auch ÖVP-Familiensprecher Norbert Sieber und die Wiener ÖVP-Gemeinderätin Caroline Hungerländer vor Ort. Außerdem Jan Ledóchowski, der Bereichssprecher für Christdemokratie der Wiener Volkspartei. Er war viele Jahre Moderator des Marsches und ist ehemaliger Präsident der "Plattform Christdemokratie", wo man sich ebenfalls gegen Abtreibung engagiert.

Dass Kugler betont, inhaltlich nie für Citizen Go gearbeitet zu haben und selbst der Auftrag an ihren Mann Jahre zurückliege, lässt Yannick Shetty, bei den Neos für LGBTQI und Jugend zuständig, nicht gelten. "Die Leaks zeigen auf, dass die ÖVP-Abgeordnete als Drehscheibe der erzkonservativen Plattform im deutschsprachigen Raum gilt." Das sei "besorgniserregend" und zeuge von Doppelmoral: Auf der einen Seite werde – zu Recht – Strömungen des sogenannten politischen Islams der Kampf angesagt, auf der anderen Seite seien "christliche Fundamentalisten in der türkisen ÖVP bestens vernetzt". Fundamentalreligiöse Einflussnahme auf die Gesetzgebung – egal von welcher Seite – brauche es in Österreich nicht.

Grüne: ÖVP gibt fundamentalen Gruppierungen Raum

Das betont auch Ewa Ernst-Dziedzic, die bei den Grünen Sprecherin für Außenpolitik, Migration, Menschenrechte und LGBTQI ist. Dass man Ultrakonservativen in den eigenen Reihen Spielraum lasse, aber auch dass Sebastian Kurz in der Wiener Stadthalle bei einem Mega-Gebet der Freikirchen dabei war – Awakening Austria –, zeige das politische Kalkül dahinter: In der ÖVP wisse man eben genau, dass es sich hier um Gruppierungen, um Wählerstimmen handle, die man erschließen könne, sagt Dziedzic. "Man erinnere sich nur an das Gebet im Parlament", nennt sie ein anderes Beispiel. "Das war eine Grenzüberschreitung, und sie zeigt, dass man bereit ist, Hardlinern wie Loretto im Hohen Haus eine Stimme zu geben", sagt Dziedzic. Sie sei jedenfalls froh, dass es nun Daten dazu gebe, wie tiefgreifend der Einfluss von christlich-fundamentalen Gruppen in Europa ist.

Gudrun Kugler hat genau damit ein Problem. Dass hier 17.000 persönliche Dokumente einer Privatperson veröffentlicht wurden, sei eine grobe Verletzung von Bürgerrechten, die noch dazu mit der Weltanschauung der Person gerechtfertigt werde. "Ich halte das für äußerst problematisch." Für sie sei der Leak ein Beispiel für Cancel-Culture: "Heute hat man das Gefühl, jeder darf mitdiskutieren, es sei denn, man vertritt eine christliche oder konservative Meinung. Auch für diese Menschen muss die selbstverständliche Möglichkeit bestehen, sich ohne Angst vor Repressalien öffentlich zu Wort zu melden."

Datenschutzverletzung von Citizen Go

Apropos Datenschutz: Laut dem Bericht der "Taz" stehen von tausenden Menschen, die Petitionen unterzeichnet haben, Namen, E-Mail-Adressen, Postleitzahlen und Herkunftsländer offen zugänglich auf der Citizen-Go-Website. Jeder Datensatz einer Person ist demnach über eine fortlaufende Nummer abrufbar, wodurch man sich einfach durch die Daten klicken kann. Laut einem von der "Taz" befragten Juristen eine massive Verletzung des Datenschutzes. Citizen Go war für eine Stellungnahme vorerst nicht erreichbar. (Lara Hagen, 11.8.2021)