Natürlich hat es wehgetan. Erstens weil es immer wehtut, mitzuerleben, wie ein Traum zerplatzt. Schmerzhaft zerplatzt. Zweitens weil man – ich – ja weiß, wie es sich schon im Kampf um die "silberne Himbeere" der Normalo-Läuferinnen und -Läufer anfühlt, wenn das, wofür man lange und hart gekämpft hat, einfach – gerade heute – nicht geht. Und drittens weil ich den Athleten kenne. Nicht auf Best-Buddy-Ebene – aber doch besser als über die übliche Journalisten-Sportler-Schulterklopf-"Freundschaft".

Als Lemawork Ketema Sonntagnacht nach 15 Kilometern beim olympischen Marathonbewerb in Tokio aufgeben musste, saß ich vor dem Fernseher und litt mit ihm: Ich weiß, wie sich ein DNF ("did not finish") anfühlt. Aber dieses DNF? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.

Foto: Harald Fritz

Was Lemawork Ketema und mich verbindet ist Harald Fritz: Sein Coach ist auch meiner. Und: Nein, das heißt keine Sekunde, dass Lemas Laufen (oder das von Peter Herzog, dem zweiten österreichischen Marathon-Olympiastarter) und meines etwas gemein haben – außer dass wir dabei beide die Beine bewegen. Ganz im Gegenteil – aber durch Haralds Betreuung des mehrfachen Wing-for-Life-Gesamtsiegers bekam ich über die Jahre mehr als nur einen Einblick in das, was Spitzensport von Hobbylaufen unterscheidet. Ja klar: Leistung und Talent. Aber zum anderen die Hingabe, die Leidenschaft – und die Bereitschaft zu leiden. Dieses totale, superdisziplinierte Fokussieren auf genau ein Ziel. Über Jahre.

Und dann poppt genau dann eine blöde, langwierige, elende Verletzung wieder auf: DNF. Der Horror.

Foto: Harald Fritz

Lemawork Ketema brachte mich und Harald zusammen. Irgendwann, vor Jahren, interviewte ich ihn auf der Hauptallee. Beim Laufen. Lema lief sich locker ein, plauderte (damals noch englisch) fröhlich – und ich starb daneben fast den Tempo-Herztod. Bis Lema – freundlich und höflich – meinte, er müsse jetzt leider ins Laufen kommen, und losrannte. Im Video sieht das aus, als würde ich auf einer Parkbank sitzen, an der ein D-Zug vorbeibrettert: Das Filmchen bleibt im Giftschrank.

Tags darauf rief mich Harald Fritz an. Zwei Wochen später bekam ich meinen ersten Trainingsplan von ihm.

Foto: Harald Fritz

Mit Olympia, mit Tokio, hat das nur insofern zu tun, als Fritz Ketema nach Japan begleitete – und deshalb hin und wieder kleine Infos aus allererster Hand um die habe Welt reisten. Kleine Gustostückerln, die neben den Stimmungen eben auch manche Skurrilitäten illustrierten: ein kurzes Handyvideo vom Weg vom Hotel entlang der Absperrungen zu einem gut und beidseitig von sich verneigenden Sicherheitskräften bewachten Zebrastreifen etwa – und vom Weg zurück auf der anderen Straßenseite zu einem Restaurant exakt gegenüber, weil die Corona-Regeln das unkontrollierte, direkte Überqueren der Straße halt verboten. "Wir wurden auf Schritt und Tritt davon abgehalten, 'zu entwischen' – sogar in Sapporo: Da mussten wir nur auf die andere Straßenseite zum Essen, aber die knapp 100 Meter waren mit vielen Securities überwacht."

DER STANDARD

Aber dem Schmunzeln schickt Harald Fritz eines voraus: Was man betonen müsse, sei "die unglaubliche Freundlichkeit der Japaner. Ich habe mich selten in einem Land so willkommen gefühlt!"

Dazu schickte Harald ein Bild der Abschiedsdelegation für den Weiterflug von Tokio nach Sapporo. "Gleichzeitig fällt der unglaubliche Personaleinsatz auf. Bei jedem, der etwas macht, steht ein Kontrollor und dann noch mindestens ein Supervisor."

Das begann schon bei der Einreise – die rund vier Stunden dauerte.

Derlei wussten wir "daheim" zwar auch schon von anderswo – aus erster Hand ist es aber dann eben doch anders.

Foto: Johannes Langer

Vor allem, wenn kurz darauf die Bestätigung kommt, in der sich die leichte Verblüffung vor allem in der Kürze der Nachricht manifestiert: "Die Betten sind tatsächlich aus Karton" …

Foto: Harald Fritz

… gefolgt von ein paar begleittextlosen Bildnachrichten. Etwa der "Customize your Kartonbett"-Anleitung …

Foto: Harald Fritz

… oder diesem Bild: Beheizte Toilettensitze mit ("gendergerechten") Warmwasserduschen kenne ich selbst aus Fernost – aber Urinale in Nicht-einmal-Hobbit-Höhe sind mir neu.

Foto: Harald Fritz

Das Grinsen verging uns aber, als Harald dann Bilder vom Training schickte: Wetter ist Wetter ist Wetter, aber …

Foto: Harald Fritz

… so eine "Trainingsanlage" hätte ich eher nicht vermutet: "Eine Woche Training auf einem 950 Meter Rundkurs. Peter Herzog ist in der Woche dort 100 Kilometer gelaufen."

Foto: Harald Fritz

So wirklich "olympisch" wirkte das nämlich nicht.

Foto: Harald Fritz

Der Stimmung im Team und dem Einsatz tat das aber keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil: So was schweißt zusammen. Und wer so lange und so hart auf ein Ziel hingearbeitet hat, lässt sich sowieso nicht so leicht entmutigen:

"Super Stimmung im Team …

Foto: Harald Fritz

"… und am Schluss noch den Großmeister getroffen", schrieb Harald – wobei ich bis jetzt nicht zu 100 Prozent herausbekommen habe, ob dieses Bild von Eliud Kipchoge wirklich in dieses Raum-Zeit-Kontinuum passt oder nicht erst kurz vor dem Start des Bewerbes in Tokio aufgenommen wurde: Da mit Deppert-Nachfragen zu nerven schien irgendwie nicht angebracht.

Foto: Harald Fritz

Wie der Lauf dann lief, ist bekannt: Kipchoge siegte, Peter Herzog wurde 61., Lemawork Ketema stieg nach 15 Kilometern aus: Jeder und jede, egal ob ein Olympiastarter in Tokio oder eine Spaziergängerin im Prater, hat nur eine Gesundheit. Und manchmal muss man "Nein" sagen – obwohl man sich jahrelang auf das "Ja" vorbereitet hat.

Das ist die härteste und brutalste Entscheidung, die ein Athlet oder eine Athletin treffen kann – und wohl die einsamste: Dafür gibt es keine Medaille, keine schulterklopfende Polit-Ranschmeißerei, keine plötzlich auftauchenden "immer schon beste Freunde".

Aber den höchsten Respekt von Menschen, die wissen, wie weh es tut, wenn ein Traum, für den man alles gegeben hat, zerplatzt.

Foto: Thomas Rottenberg

Nachtrag eins: Ob es das wert war, hatte ich Harald noch vor dem Marathonstart gefragt/geschrieben. Vorher, weil ich vermeiden wollte, dass sich ein – egal wie geartetes – Ergebnis auf die Antwort auswirken würde. Allerdings kam die dann doch erst danach:

"Es hat sich jedenfalls gelohnt. Es ist ein einmaliges und unvergessliches Erlebnis, und ich kann mir hochrechnen, wie toll es sein muss, wenn es keine Corona-Restriktionen gäbe. Das japanische Publikum ist sensationell, und zumindest beim Marathon konnten wir etwas davon erleben. In den Stadien haben die Betreuer und Kollegen halt das Publikum ersetzt: So gute Sitzplätze bekommen wir nie wieder! Die unterschiedlichen Sportlerinnen und Sportler hautnahe zu erleben ist eine unbezahlbare Erfahrung: Die Völkerverbindung ergibt sich da automatisch. So muss es sein!"

Foto: Thomas Rottenberg

Nachtrag zwei – und zugleich eine Ankündigung, die mit Olympia nichts zu tun hat:

Vor wenigen Tagen schrieb mir Eva Michailowitsch ein kurzes Mail. Sie, schrieb die mir bis dahin unbekannte Steirerin, starte diesen (also vergangenen) Samstag eine laufende Österreich-Durchquerung. Vom westlichsten Zipfel Vorarlbergs zum östlichsten des Burgenlands.

Michailowitsch läuft ohne Sponsoren, Media-Coverage oder Begleittross. Täglich wolle und werde sie 30 bis 60 Kilometer zurücklegen. Und weil Alleinelaufen zwar meditativ und schön sei, Gesellschaft hin und wieder aber doch auch fein, fragte sie, ob ich sie auf ihrer Wien-Etappe – irgendwann um den 21. oder 22. August – nicht begleiten wolle. Einfach so. Einzige Bedingung: ein Konditoreibesuch am Weg.

Foto: Eva Michailowitsch

Natürlich schrieb ich zurück: Wenn es sich irgendwie ausgeht, werde ich diesen oder einen anderen Teil der Strecke mit der – wie sich rasch herausstellte – Trail-, Ultra- und Mehrtagesläuferin laufen. Die Etappen-Torte geht auf mich.

Falls aber auch andere Läuferinnen und Läufer Eva ein Stück begleiten oder virtuell dabei sein wollen: Man findet sie auf Instagram als @berglaufleben, auf Garmin Connect kann man ihren Lauf als Livetrack verfolgen.

Auch wenn Michailowitsch’ Ultra mit Ketemas Marathon auf den ersten Blick wenig gemein hat: Es gibt eine Parallele.

Es geht immer um Träume. Und um den Mut, sie wahrzumachen.

Ob das gelingt, weiß man erst im Nachhinein.

Aber die einzige Niederlage wäre, es nicht versucht zu haben. (Thomas Rottenberg, 10.8.2021)

Veranstaltungshinweis:

Wer Thomas Rottenberg "live" erleben möchte, hat dieses Wochenende (14. August) in Graz die Chance dazu. Er ist Laufguide und Vortragender bei Endurance&, einer Plattform an der Schnittstelle von Ausdauersport und kritischem Diskurs.

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Foto: Thomas Rottenberg