Es war an einem Nachmittag Anfang Juni 2020: Wir saßen auf der Bank vor dem Späti im Niemandsland zwischen Treptow und Kreuzberg und tranken ein Bier. Plötzlich schwankte er rappend um die Ecke. Der junge Mann südländischen Typs, Ende, wahrscheinlich aber eher Mitte zwanzig, war verschwitzt, hatte glasige Augen und wirkte allgemein etwas derangiert. Schon in seiner Gucci-Herrenhandtasche herumfummelnd fragte er uns: "Ey Jungs, habt ihr mich gerade auf Telegram wegen Koks angeschrieben?" – "Äh, nein", antwortete ich. "Hoppala! Na dann, nix für ungut!", sprach's, nahm einen tiefen Schluck aus seiner Jacky-Cola-Dose und setzte sein Telefonat fort: "Alles gut Schatz, da bin ich wieder!"

"Ey Jungs, sagt mal, habt ihr mich gerade auf Telegram wegen Koks angeschrieben?"

Eine Dreiviertelstunde später standen wir schon vor dem Club an der Spree auf der Schlesischen, der heute zum ersten Mal nach fast anderthalb Jahren Lockdown, wieder eine Veranstaltung hosten durfte. Natürlich als interdisziplinäre Ausstellung camoufliert, inklusive Wald- und Wiesenkunst, Tanzverbot und Hygienekonzept – alles natürlich nach wenigen Stunden hinfällig. Da kam er wieder die Straße heruntergejeanst und quatschte uns erneut mit seiner Masche an: "Ey Jungs, sagt mal, habt ihr mich gerade auf Telegram wegen Koks angeschrieben?" Immer noch nicht, sagte mein Freund Johann, der sich für den hier gerade anlaufenden Partygehversuch irgendwie mitverantwortlich zeichnete. "Kommt schon Jungs, ist astreines Zeug. Ich rauch das sogar! Ihr wollt euch doch nicht von nem Flüchtling verarschen lassen", lachte der Typ hyänenhaft. Humor hatte er jedenfalls, was er aber in dem interessanterweise zugeschweißten Eppi hatte, das er aus dem bei ihm wohl eher unfreiwillig schwul wirkenden Gucci-Täschlein fischte, war ich mir nicht so sicher. "Aha, du warst ein Flüchtling?", fragte ich ihn ob seiner Blitzkarriere im Betäubungsmittel-Business. "Nein Bruder, Quatsch! Ich hab deutsche Pass, bin so deutsch wie Du." "Aha, dann bist du also auch eine Kartoffel?" Darauf konnte er nur mehr dümmlich grinsen, er wollte uns schließlich etwas verkaufen. Was soll ich sagen? Das Geschäft kam natürlich nicht zustande, und er wankte weiter in Richtung Clubeingang, wo er weitere Leute mit der Telegram-Nummer ansprach. "In zwei Monaten spätestens ist der im Knast", meinte Johann routiniert und abschließend zu der Angelegenheit.

Zur freien Entnahme am Kottbusser Tor.
Foto: Alexander Keppel
Soulfood.
Foto: Alexander Keppel

Was sich hier wie eine wegen zu viel Klischeehaftigkeit verworfene Szene von 4 Blocks liest, ist ein nüchternes Ereignisprotokoll aus Berlin im Frühsommer 2021. Nach beinahe anderthalb Jahren pandemischer Zwangspause hatte ich meiner alten Heimat mal wieder einen ausgedehnteren Besuch abgestattet. Diesmal war aber etwas anders – ich brauchte deutlich länger, mich von schöner blauer Donau wieder auf schöne graue Spree umzustellen. War ich inzwischen verwienert? Vielleicht. Es begann bereits auf der Stadtautobahn, als ich mich durch die so trost- wie gesichtslosen Industriegebiete und unwirtlichen Ausläufer Neuköllns ins Innere des Bezirks vorarbeitete. Als ich das Quartier vorbei an ausgebrannten Wracks und erlebnisorientiert wirkenden Migrantenkids auf E-Rollern mitten auf der Vierspurigen durchquerte, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Wird mein Auto – ein lustiges, kleines Fiat-Cabriolet – die Nacht überstehen? Morgen wird fix das Verdeck aufgeschlitzt sein. Entweder von ebenjenen Jugendlichen oder den Hartz-Kadern der zerfrusteten Kiez-Antifa, die schon bei meinem österreichischen Kennzeichen rot und nur noch Strache, Haider und Hitler sehen werden. Stopp! Was war nur aus mir geworden!? Menschen, die so dachten, habe ich früher verlacht. So tickten ängstliche Touris aus dem Ländle – die unterste Kaste der Berliner Hackordnung. Menschen, die ihren Rucksack auf dem Bauch trugen und ihre Dokumente getrennt aufbewahrten; Menschen, die ihre Befürchtungen in Realität umgesetzt verdienten. War ich nun einer von ihnen?!

Was war nur aus mir geworden!?

Vom Treptower Balkon meines Freundes Mirko, Urberliner, Ende 40, der aber wirkt wie Ende 20, auf dem er Rauke und andere, eher rauchbare Kräuter zog, wirkte die Szene schon wieder deutlich friedlicher. Ein Schultheiss aus der knubbeligen Steiniflasche beruhigte die Nerven, ließ mich zur Vernunft und für den Abend ankommen.

Am nächsten Tag machte ich einen ausgedehnten Spaziergang durch Treptow, Kreuzberg und Neukölln, um eine Plakatkampagne zu fotografieren, die ich mit einer Wiener Agentur für die Staatlichen Museen zu Berlin anlässlich ihrer Wiedereröffnung gemacht hatte. Ich freute mich wie ein Kind, als ich die in Wien entstandenen Sujets an Berliner Wänden, Litfaßsäulen und Stromkästen wiederentdeckte. Doch auch das war nicht ganz ungefährlich, denn die Fußwege wurden von den Berliner Radfahrern ganz selbstverständlich als Zusatzradwege genutzt. Ob nun gestresste Foodora-und-Co-Gig-Economy-Slaves, tätowierte, lebensgehärtete Mütter um die 40 mit ihren wuchtig-teuren Bakfilets oder Baboe Kinderkutschen oder irgendwelche Retro-Rennrad-Fuzzis mit ihren albernen Häubchen – sie und alle anderen sahen sich mit ihren Rädern überall und grundsätzlich im Recht. Die Ansage, dass dies ein Fußweg – ja ein Bürgersteig sei – und die vergnügliche Verlängerung, dass ich als Fußgänger doch auch Rechte habe, lag mir schussbereit in der Mundhöhle, kam mir aber ausgestoßen hier so absurd vor, wie es jene selbstgerechten Pedalsubjekte waren, die mich beim Fotografieren ständig fast niederführten. Ich fuhr ja auch gerne Rad, aber doch nicht so! Überhaupt empfand mein auch nicht mehr so neues Wiener Ich den ungehobelt-polternden Rhythmus der Stadt als viel zu grobschlächtig. Das Berlin, das ich 2015 verließ, war auch nicht viel weicher als das von 2021, doch waren die Erinnerungen inzwischen abgeschliffen und eingeschmolzen wie delikate Fleischstückchen im weichen Wiener Aspik.

Ich saß inmitten eines "Freaknados"!

Nachdem ich meinen Dokumentationsspaziergang nach ein paar Stunden beendet hatte, setzte ich mich vor die von mir hochgeschätzte Ankerklause am Landwehrkanal. Eine Institution, in der sich über die Jahre erfrischend wenig verändert hat, was bemerkenswert ist in einer Stadt, von der schon vor über hundert Jahren gesagt wurde, dass sie verdammt ist, nie zu sein, sondern immer zu werden. Die Ankerklause lag genau auf der Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln – einem seit Jahren sehr gehypten Kiez, dass von Idioten auch gerne Kreuzkölln genannt wird. In der Mitte der Ankerklause, die zur Hälfte über dem Landwehrkanal hängt und sich klammheimlich an die Alster sehnt, thront eine alte Jukebox, die aber immer mit den neuesten Nummern bestückt ist. In ihrer launig-maritimen, Hans-Albers-haften Ausgestaltung ist das Lokal ein Fels in der Kreuzberger Brandung. Einer der weniger werdenden Orte, wo man sich nicht auf Englisch ansprechen lassen muss und sich die Karte nicht per QR-Code aufs Smartphone laden darf. Ich glaube, in der Ankerklause gibt es nicht mal WLAN. Gut so. Dafür gibt es sehr guten und sehr starken Kaffee. Und den brauchte ich jetzt auch, nach über vier Stunden per Pedes bei 33 Grad. Leider ist das Glas Wasser dazu weder so gut wie in Wien, noch obligatorisch.

Site specific.
Foto: Alexander Keppel

Da saß ich nun vor der Ankerklause, in der sich bis auf einen verschmerzbaren Wechsel der Biermarke – von Bitburger auf Veltins – nichts verändert hatte. Beide übrigens – Verzeihung – um Welten besser als alle österreichischen Biere, so man die Brauart Pils bevorzugt, was ich tue. Ich streckte mich unter einem großen Sonnenschirm mit bester Aussicht und fing plötzlich an zu lachen. Ich musste lachen und konnte eine Weile nicht mehr aufhören. Hatte ich womöglich einen leichten Sonnenstich? Vielleicht auch das. Hauptanlass für meine Heiterkeit waren jedoch die unzähligen, tollen Gestalten, die mich umströmten. Es war herrlich – ich saß inmitten eines Freaknados! Kostprobe? Bitte sehr: hier der joggende Transmann im Bonbon-rosigen Borat-Suite, der beinahe im Minutentakt wieder und wieder aus allen Himmelsrichtungen am Lokal vorbeifederte. Da eine Abteilung grenzadipöser Türkenomis, die das Handy leger ins Nikab geklemmt, nebeneinander den Bürgersteig herunterwackelten. Dort der Großstadtneurotiker, der, ich konnte es in seinen Augen sehen, nicht schlecht Lust hatte, die ineinander verkeilten Fahrräder, an denen er sich vorbeizwängen musste, mit einem gellenden Schrei aus dem Weg zu reißen. Dann Auftritt gestresstes Artschool-Girl mit Late-90s-Matrix-Brille, Wetgel und passendem Humana-Trinity-Kunstledermantel – Balanciagas waren noch nicht drin, aber der Gesichtsausdruck: Aus dem Weg / Keiner versteht mich passte schon. Und jetzt: Altlesbe Marke Kotti im Beatstreet-Look. Knallroter Achtzigerjahre-Adidas-Jogginganzug, Chicago-Bulls-Basecap und Mini-Ghettoblaster auf der Schulter aus dem Oldschool-Hip-Hop – stilecht von Kassette – schepperte. Wo verbarg sich René Pollesch, der all diese Gestalten über diese Freiluftbühne jagte. Ich sah ihn förmlich vor mir, versteckt in einem nahen Hausflur sagen: "So, und jetzt der Gasmaskenmann mit dem Staubsaugerrucksack von der Loveparade 96."

Immer wieder beschlich mich der Eindruck, inmitten einer Performance zu sitzen, und es war wunderbar. Am Nebentisch, gänzlich unbeeindruckt, ein Berliner Paar Ende vierzig. Sie: knallrotes Haar, Mid-90s-Boobjob; er: bisschen ausgemergelt, graues Gesicht, Haargel, Jeans, T-Shirt, Menschenkenntnis aus der Baubranche. Beide für den Moment zufriedene, alte Jugendliche: die Gesichter rauchend der rotgoldenen Abendsonne zugewandt, die hier auf diesem Platz immer am längsten scheint. Ich? Versöhnt, zu Hause.

Am "Pfandomat" beim Billa bin ich immer allein

Klar, Wien hat auch tolle Freaks wie den Bierkavalier. Ihnen, verehrte, ältere Wiener Leserinnen und Leser, werden sicher auch noch mehr einfallen. Aber mit der Qualität und Frequenz, die einem hier geboten wurde, kann Wien nicht (oder nicht mehr? Sagen Sie es mir bitte in den Kommentaren) mithalten. Und diese Menschen waren ja auch nicht alle Freaks im klassischen Sinne. Sie alle waren ihr eigener Richtwert von normal, aber sie schaukelten sich so schön gegeneinander auf, wurden einander zu schillernden Kontrastfolien – alle gegen alle, jede mit jedem – erzeugten sie ein Spannungsfeld, das natürlich und inszeniert gleichzeitig wirkte – so wie gutes Theater eben.

Ich trank aus und verließ die Szene Richtung Neukölln. Der Landwehrkanal am Maybachufer suppte mattgrün vor sich hin wie eh und je. Darauf trieben dicht an dicht bunte Schlauchboote, mit Menschen drin, die einiges darauf verwandten, zu zeigen, dass sie gerade eine verdammt gute Zeit hatten. Nicht wenige hatten auch schon jetzt, am Nachmittag, zünftig aufgetankt und beschallten mit ihren Bluetooth-Blastern die inzwischen dichtbesetzten Ufer. Schlauchboote und Ufersitzer waren an diesem Kanalabschnitt vor sechs Jahren eher eine Ausnahme. Auch die Zeltbehausungen derer, die sich hier kein festes Dach über dem Kopf mehr leisten konnten, hatten deutlich zugenommen. Der gerade implodierte Mietendeckel, inklusive unverschämter und für nicht wenige wohl existenzbedrohlicher Nachzahlungen, wird wohl noch weitere dieser poverty-tippis aus dem Boden schießen lassen. "Deutsche Wohnen" strikes back. Doch auch sie integrierten sich irgendwie ins lauschig-rauhe Feelgood-Bild, als sei es das Normalste der Welt, dass Menschen so leben müssen. Im Lars-Kraume-Film Die Kommenden Tage von 2010, der ein Berlin und eine europäische Union kurz vorm Kollaps in einer nahen Zukunft zeigte, waren Bilder wie diese Zeltsiedlungen noch semidystopische Projektionen, elf Jahre später waren sie bereits Realität. Menschen wie ich stellten ihre Pfandflaschen vor den Tippis ab und fühlten sich billig-gut dabei. In Wien weiß kein Mensch, was leere Bierflaschen vor einem Mistkübel zu suchen haben. In Berlin ist Pfand eine harte Schattenwährung mit teils hochprofessionalisierten Sammlern, ausgestattet mit Lastenrädern und Stirnlampen. In Wien sind sich selbst die Sandler zu fein für das Leergut. Am Pfandomat beim Billa bin ich immer allein.

Die Stimmung war allgemein ausgelassen und freundlich an diesem Spätnachmittag im Frühsommer. Der Vibe – smooth. "Hipness ist das Manna, das diese Stadt wie ein Begrüßungsgeld an alle ausschüttet", sagt Florian Illies in seinem Vorwort zu dem von ihm 2015 wiederveröffentlichen Berlin-Klassiker "Berlin – ein Stadtschicksal" von Karl Scheffler aus dem Jahre 1910. Und er hatte recht: Junge und alterslose Menschen aus aller Welt stromerten, noch abzüglich der Touristen, durch den Neuköllner Nachmittag.

Das letzte Mal mit sechs oben gewesen.
Foto: AFP/STEFANIE LOOS

Zwischen Ankunft in Berlin und der Metamorphose zum Berliner

Man flanierte, schaute, schmauste, trank und fotografierte sich vor Dingen und mit anderen, um den Insta-Feed zu füttern. Man brachte sich zuverlässig um die Momente, durch ihr (Zer-)Teilen. Erst durch das Like-Feedback werden sie dann als nicht erlebte Erlebniszombies wieder zum Leben erweckt. Ich traf eine alte Kommilitonin wieder, die auf der Brücke stand und Zettelchen mit ihrer Telefonnummer an Typen verteilte, die ihr gefielen. Offline-Tinder nannte sie das. Nicht schlecht. Ich verabschiedete mich und zog weiter, bog mit leichtem Rückenwind aus Kaffee und kleinen Bieren weich um die Ecken und irgendwann hinein in den nächsten Späti. Der junge turkodeutsche Verkäufer war gerade am Verzweifeln mit zwei langhaarigen Rucksackfranzosen, die ihm mit ihrem gedehnten Akzent und ihren Handys auf Erasmus-Englisch das richtige Zigarettenpapier zeigen wollte. Es war ja nicht so, dass dieser erstklassig sortierte Späti nicht schon gefühlte 300 Sorten Zigarettenpapier im Angebot hatte. Nein, es musste – bitte schön – dieses sein. Als sie dann endlich irgendwas gekauft hatten und verschwunden waren, versuchte ich die Situation mit etwas Verbindlichem wie "Schon fünf Jahre in Berlin und immer noch kein Wort Deutsch!" zu retten. Ich wollte einen Neuanfang, denn ich war ja ein neuer Kunde, der mit diesen da nichts zu tun hatte. "Ja, Bruder! Du sagst es! Katastrophe!", rief der Verkäufer erleichtert aus. Vielleicht lag Gabi Delgado von DAF mit "Wir sind die Türken von Morgen" heute doch ein bisschen daneben. "Sie sind die Deutschen von heute!" trifft es 2021 wohl eher.

Der Freund, mit dem ich jetzt unterwegs war, nennen wir ihn Ron, ist Halbamerikaner und Halbdeutscher. Er hat länger in Wien gelebt als ich, sieht aber mit seinen neuen Muskeln, dem Starter-T-Shirt und dem Starter-Basecap eher aus, wie ein Vollamerikaner, der hier staunend seine ersten Schritte durch crazy Neukölln macht, in das er gerade gezogen ist und dessen gängigen Streetstyle er noch nicht adaptiert hat. Es war ein spannender Einblick in das kurze Zeitfenster zwischen Ankunft in Berlin und der Metamorphose zum Berliner. Ich, der entwöhnte Nichtmehr- und er, der noch unverdorbene Neu-Berliner, waren überhaupt ein interessantes Gespann. Automatisch sah ich alles auch durch seine frischen Augen. Sein Drink, ein Dosen-Gin-Tonic, zu seinem Outfit beunruhigte und beflügelte mich – gleichermaßen – eine Stimmungsmelange, die überhaupt bezeichnend für den ganzen Trip war. Kein blöder Club-Mate, kein Gösser-Radler (Big in Berlin!) oder irgendein überbewertetes Bayern-Bierchen, nein, ein Longdrink, aus der Dose – das hatte was.

"Is that all you’ve got to give?!"

Inzwischen war es dunkel geworden. Neben dem Späti klampfte ein Pennermusiker die Pennermusik des erfolgreichsten Pennermusikers Tom Waits auf seiner abgeliebten Gitarre. Sein Spiel hatte aber nicht die ölig-verspulte, versoffene Schwummrigkeit eines Tom Waits, sondern war eher aggressiv, bösartig und durchsetzt von Beschimpfungen auf ausgesuchte Passanten. Eine junge Frau Mitte zwanzig, Typ spanische Sozialarbeiterin, hielt mit ihrem Fahrrad vor dem Wutmusiker, der gegen die Welt und gegen das Leben spielte. Ich hatte leider nicht verstanden, was sie zu ihm in ihrem Espanol-Englisch gesagt hatte, aber dafür umso deutlicher, was er antwortete: "Is that all you’ve got to give?! Is that all you’ve got to give?! Is that all you’ve got to give?!", fauchte er sie bedrohlich an. Und dann, unbezahlbar: "You should stop complaining and be thankful, for what you’ve got!", gab sie ihm im freundlichen, aber bestimmten Streetworker-Ton mit auf den steinigen Weg. Ich glaube, das war exakt, was er jetzt brauchte – es war alles so perfekt.

Zurück auf der Hobrechtbrücke hatte sich inzwischen ein Schwarzer eingefunden, dessen Gewandung sogar auf Tatooine für Aufsehen gesorgt hätte. Über dem ausgemergelten Leibe trug er eine Art formloses Poncho-Kleid in Rostrot. Um den Hals hatte er sich neben einem Duschschlauch auch noch eine Kuchenspringform gewickelt. An den Kopfputz kann ich mich nicht mehr genau erinnern, es könnte ein halber Volleyball oder Ähnliches gewesen sein.

:).
Foto: Alexander Keppel

Eyyy!

Neben einer Plastiktüte mit allerlei Habseligkeiten darin, die er nach seinem eigenen System in regelmäßigen Abständen vor und hinter und rechts und links von sich drapierte, war das auffälligste Accessoire eine blecherne Deckenlampe die er am Spiralkabel wie ein überdimensionales Jojo auf- und abgleiten ließ. Wie angewurzelt stand er da mit seinem Equipment und faselte mir Unverständliches. Nach circa fünf Minuten wechselte er den Standort um ein paar Meter und performte dort weiter. Er war nicht so offensichtlich aggressiv wie der Pennermusiker, wirkte aber auch nicht gerade tiefenentspannt. Es fühlte sich besser an, ausreichenden Abstand zu ihm zu wahren. Und wie befürchtet packte ihn bald überfallartig die Wut, und er rüttelte wie wild an einem Fahrradknäuel herum. Nur ein präziser Ordnungsbrüller (Eyyy!) meines inzwischen auch zu uns auf die Kanalbrücke gestoßenen Altberliner Freundes Mirko brachte ihn zur Räson und sich wieder murmelnd seinem nur für ihn verständlichen Tütenspiel zuwenden. Ich spürte, wie sich eine nagende Ungeduld gegenüber diesem Menschen in mir regte. Eine Ungeduld, unter die sich kurz eine leise Lust auf eine Patrick-Bateman-Experience mischte. Für einen Moment genoss ich zumindest die Vorstellung, wie es wäre, seine blöde Tüte zu nehmen und in hohem Bogen in den Kanal zu pfeffern. Tja, ich war wirklich nichts mehr gewohnt.

Wenn Blicke töten könnten …

Tags darauf traf ich meine Ex-Freundin, die in Wien mittlerweile berühmte Biber-Autorin Nada El-Azar, für einen Spaziergang auf der Sonnenallee. Unsere Wege kreuzten sich zufällig, da ich meine Reise ob permanenter Regengüsse über Wien, Prag, Dresden und Berlin – also der klassischen Autoreiseroute um anderthalb Wochen verschoben hatte und damit in ihren Timeslot gerutscht bin, in welchem sie eine nach Berlin übersiedelte Freundin besuchte. So flanierten wir mit einem nostalgischen Grundrauschen die Sonnenallee herunter, die wir zuletzt noch als Paar besucht hatten. Damals, im Sommer 2019, ich erinnere mich noch, als sei es gestern gewesen, war das allerdings ein regelrechter Spießrutenlauf. Ich, eher größer, blond, blauäugig, mit meiner kleinen ägyptisch-palästinensischen Freundin im Arm. Einer Freundin, die man nicht für eine Süditalienerin, Spanierin, Griechin oder Latina halten konnte. Es tut mir leid, aber ägyptischer als sie konnte man eigentlich nicht aussehen.

So schlenderten wir damals Arm in Arm den Sunset Boulevard Neuköllns herunter und spürten bald eine gewisse Mulmigkeit in uns aufsteigen. Wenn Blicke töten könnten, wären wir längst perforiert von Projektilen, die uns aus den schwarz funkelnden Augen junger Männer vor den Shisha-Cafés und Wettbüros durchsiebten, die wir passierten. Es war wirklich irre, sie begriffen sie als eine der ihren, als ihr gefühltes Eigentum, dass nicht in meine Hände gehörte, sondern eben in ihre. So einfach war es für sie in ihrem brisanten Mindset aus Ehr-Zerfressenheit, unterdrückter Sexualität, fragiler Männlichkeit, pseudoreligiösem Hochmut und Machokultur. Die Unflätigkeiten, welche manchem unter ihnen bei unserem Anblick entfuhren, und die Nada dann später übersetzte, möchte ich hier lieber nicht reproduzieren.

Dem Anlass entsprechend.
Foto: Alexander Keppel

"So ist das Leben"

Heute war es ruhiger, und wir gingen nicht mehr Arm in Arm. Wir "besichtigten" die Ruine des explodierten, libanesischen Falafellokals Al Andalos, im Erdgeschoss meines ehemaligen Wohnhauses. Wir trafen dort auch Baba, den ehemaligen Besitzer, ein stets freundlicher, leicht untersetzter, gemütlicher Mann um die 60, der mir durch seinen Laden die Grundkenntnisse der arabischen Küche beibrachte. Wir plauderten ein wenig. "So ist das Leben", war alles, was er dann zum Exodus seines ehemaligen Lokals, der es auch in den "Tagesspiegel" schaffte, zu sagen hatte. Ich mochte diese Ausprägung levantinischer Mentalität sehr, von dem sich in Mitteleuropa so manche eine daumendicke Scheibe abschneiden können. Als ich einmal beim Supermarktbäcker um die Ecke von meiner Großmutter Windbeutel für sie und mich kaufen wollte, hatten mir sage und schreibe zwei Cent gefehlt, worauf die Ostverkäuferin nur maulte: "Nö, jibts nich. Mir schenkt uch keener watt!" Wenn einem im Al-Andalos mal zwei Euro gefehlt hatten, konnte man dies immer irgendwann begleichen.

Nach einer völlig verstauten, fast elfstündigen Heimfahrt über die sommerlich aufgerissenen Autobahnen Tschechiens bei 36 Grad ohne Klima, knapp vorbei an ausgekohlten Wracks und einem Nervenzusammenbruch Höhe Brünn kam ich wie in Erlkönigs Armen in Wien an. Ich parkte, schloss kurz die Augen und stieg aus. Ein älterer Mann, kein Sandler, aber ein Flaneur, mit langen, weißen Haaren und zerschlissenem Sakko blieb stehen, sah mich an und wünschte mir mit knapper Verbeugung einen guten Abend. Ich freute mich nach elf Stunden, mal mit jemand anderem als mit mir zu sprechen, und schenkte ihm spontan ein Berliner Kindl aus meinem mitgebrachten Kasten. Er war glücklich, und ich war es auch. "Ich werde es in die Vitrine stellen", raunte er ergriffen. Ich sagte ihm, er solle es lieber kaltstellen und trinken, und freute mich wieder daheim zu sein. (Alexander Keppel, 12.8.2021)