Auch unter dem Eindruck der an Tempo gewinnenden Offensive der Taliban sind die USA offenbar nicht bereit, etwas an ihrer Abzugsstrategie zu ändern. Präsident Joe Biden scheint nicht daran zu denken, das Datum für den endgültigen Rückzug aus Afghanistan, den 31. August, zu verschieben. Dies, obwohl der Geheimdienst laut Berichten der "Washington Post" mit dem baldigen Fall der Hauptstadt Kabul an die Radikalislamisten rechnet.

Der Zusammenbruch könnte in 30 bis 90 Tagen erfolgen, berichtete die "Washington Post" am Dienstag unter Berufung auf nicht genannte Quellen in den US-Geheimdiensten. Noch im Juni hatten US-Geheimdienstmitarbeiter die Lage so eingeschätzt, dass Kabul in einem Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten nach dem Abzug des US-Militärs unter Kontrolle der Taliban geraten könnte.

US-Präsident Biden an die Afghanen: "Jetzt ist der Moment, um Führungsstärke zu zeigen."
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Zumindest bis dato lassen Äußerungen von Regierungsmitarbeitern dennoch keinerlei Umdenken oder zumindest Ansätze einer Korrektur erkennen. Vielmehr sieht das Weiße Haus die mit westlicher Hilfe ausgebildete afghanische Armee in der Pflicht, sich den vorrückenden Religionsfanatikern in den Weg zu stellen.

John Kirby, der Sprecher des Pentagon, hatte die Botschaft bereits am Montag in einer Schnörkellosigkeit formuliert, die für Zweifel keinen Raum lässt: "Das ist ihr Land, das ist ihr Militär, das sind ihre Provinzhauptstädte und ihre Leute, die verteidigt werden müssen", sagte er. Die amerikanischen Streitkräfte unterstützten die afghanischen, sofern dies machbar sei – "wobei uns klar ist, dass es nicht immer machbar sein wird".

Auch der Präsident betonte am Dienstagabend erneut, dass sein Land den Hindukusch verlassen müsse. Die Afghanen müssten nun "selbst kämpfen, um ihren Staat kämpfen". Ihre Streitkräfte seien den Taliban militärisch überlegen, auch in Bezug auf die Truppenstärke – eine Einschätzung, an der es Zweifel gibt. Wörtlich sagte er: "Ich glaube, sie beginnen zu verstehen, dass sie an der Spitze politisch zusammenkommen müssen." Biden versprach, die USA würden die afghanischen Sicherheitskräfte weiterhin finanziell und militärisch unterstützen. Er werde jeden Tag über die Lage unterrichtet. Und er bedaure seine Entscheidung nicht.

"Moment, um Führungsstärke zu zeigen"

"Jetzt ist der Moment, um Führungsstärke zu zeigen", hieß es zuvor auch schon in einem Statement der US-Botschaft in Kabul. Das Beste, worauf man hoffen könne, sei eine Art Patt zwischen den Taliban und den Regierungstruppen, kommentierte seinerseits Leon Panetta, einst CIA-Direktor und Verteidigungsminister im Kabinett Barack Obamas.

In dem eher symbolischen Bemühen, den Vormarsch der Islamisten aufzuhalten, starten amerikanische Piloten von Stützpunkten am Persischen Golf zu Einsätzen am Hindukusch. An der Lage vor Ort ändern die Luftschläge offensichtlich so gut wie nichts. Nach heutigem Stand sollen sie mit dem offiziellen Abzug Ende August komplett abgeblasen werden. Ob Biden die Entscheidung revidiert, bleibt abzuwarten. Momentan deutet nichts darauf hin, dass er es tut.

Am 11. September 2021 – zwanzig Jahre nach den Terroranschlägen in New York und Washington – soll das Kapitel Afghanistan für die USA abgeschlossen sein, zumindest formal durch den Truppenabzug.
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Mit Blick auf den 11. September, den 20. Jahrestag der Anschläge auf die New Yorker Zwillingstürme und das Pentagon in Washington, will Biden das Kapitel Afghanistan gleichsam abgehakt haben – eine Intervention, in deren Fortsetzung er, seit langem ein Skeptiker des Krieges, keinen Sinn mehr sieht. Eine Intervention, die auch in seiner Partei kaum noch Zuspruch findet.

"Kein Amerikaner soll mehr sterben"

Wie tief die Ernüchterung sitzt, hat Dick Durbin, ein altgedienter Senator aus Illinois, ohne Umschweife auf den Punkt gebracht. Als er vor 20 Jahren für die Truppenentsendung stimmte, sagte er während einer Debatte in der kleineren der beiden Parlamentskammern, habe er sich nicht träumen lassen, dass man 2021 noch immer militärisch in Afghanistan präsent sei. Amerika, zog er in bitterer Prosa Bilanz, habe dieselbe Lektion gelernt wie zuvor die Briten und die Russen: die Lektion des Scheiterns fremder Mächte.

"Es kommt eine Zeit, in der wir uns eingestehen müssen, dass wir keinen Amerikaner mehr bitten dürfen, zu sterben in dem nutzlosen Versuch, Afghanistan in eine moderne Nation zu verwandeln." Eine Modernisierung, so Durbin, habe nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn das afghanische Volk selbst sie anstrebe. Im Übrigen, so der Demokrat, habe Biden mit dem Rückzugsbefehl nur wahrgemacht, was schon sein Vorgänger Donald Trump, ein Republikaner, anstrebte.

Während Durbin stellvertretend für jene breite Koalition der Interventionsskeptiker steht, in der sich Anhänger Bidens ausnahmsweise mit denen Trumps verbünden, führt Mitch McConnell die Reihen der Kritiker an: Der Präsident habe eine "bizarre" Wahl getroffen, als er eine symbolbeladene Frist wenige Tage vor dem 11. September setzte, wetterte der Senatsfraktionschef der Konservativen. Die Annahme, das afghanische Militär könne die Taliban mit allenfalls minimaler Hilfe der Vereinigten Staaten bekämpfen, beruhe allein auf Wunschdenken. "Biden wählt den einfachsten Weg heraus aus Afghanistan – und das wahrscheinliche Resultat ist ein Desaster." (Frank Herrmann aus Washington, red, 11.8.2021)