Corona-Test am Westbahnhof von Peking. Strikte Kontrollen haben China bisher gut durch die Pandemie geführt. Ob sie noch das richtige Mittel sind, ist aber auch in China zunehmend umstritten.

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Stolz zeigte Chinas Regierung stets auf die Zahlen: keine maßgeblichen Infektionswellen seit der ersten in Wuhan im Jahr 2020 – jedenfalls laut den öffentlich bekannten Daten. Die Wirtschaft wuchs längst wieder, als sich die Staaten Europas und auch die USA noch mit Hilfsprogrammen aufhielten. Und die Führung in Peking mühte sich ab, ihr autoritäres Modell als überlegen zu preisen im Vergleich mit den Demokratien, die gegen Corona nicht auf gleich harte Maßnahmen setzen konnten.

Nun aber trübt sich die Stimmung in China wieder ein: Erste Beraterfirmen wittern einen Rückgang des chinesischen Wachstums. Sie geben als Grund die Einschränkungen an, die wohl nötig seien, um auch der ansteckenderen Delta-Variante völlig Herr zu werden. Diese sorgt trotz der harten Schritte derzeit in mehreren Städten wieder für, vorerst kleinere, Ausbrüche.

Wie wieder aufmachen?

Das ist der Hintergrund, vor dem Expertinnen und Experten erstmals auch öffentlich sagen dürfen: Pekings Weg durch die Pandemie ist womöglich nicht der einzig richtige. China reiht sich damit in eine Reihe von Staaten in Asien und Ozeanien ein, die einst als Musterschüler bei der Pandemiebekämpfung galten und das – streng genommen – oft immer noch sind. Auch in Australien, Neuseeland, Korea und Teilen Südostasiens beginnen sich Einwohnerinnen und Einwohner zu fragen: Wie soll die Öffnung zur Welt gutgehen, wenn es Staaten mit geringer Immunität und relativ niedrigen Impfraten plötzlich mit Bewohnern anderer Länder zu tun haben, die sich bereit zeigen, eine gewisse Verbreitung des Coronavirus als gegeben hinzunehmen?

In China ist es die "South China Morning Post" aus Hongkong, einst Stimme der Unabhängigkeit, mittlerweile aber in der Hand der chinesischen Alibaba Group, wo die Debatte eröffnet wurde. Sie zitierte am Wochenende ausführlich eine Videokonferenz chinesischer Expertinnen und Experten, die sich für eine schrittweise Öffnung aussprachen – und für ein Ende der Nulltoleranzpolitik. "Bei null Fällen zu bleiben ist aus der Perspektive der gesamten Welt absolut unmöglich", sagte bei dieser Gelegenheit laut der Zeitung Zeng Gang, ein hohes Mitglied der chinesischen Seuchenbehörde. Man müsse irgendwie zur Herdenimmunität finden.

Liu Guoen, Direktor des Pekinger Zentrums für Gesundheits- und Wirtschaftsstudien, forderte eine "ernste und systematische Debatte darüber, die derzeitige Strategie zu verbessern". Er nannte auch die Olympischen Winterspiele im Februar 2022 in Peking als Beispiel dafür, dass die aktuelle Herangehensweise nicht ewig durchzuhalten sei.

"Race to 80" – und dann?

Wie aber können Staaten wie das 25-Millionen-Einwohner-Land Australien, das gerade erst wieder wegen einer Corona-Welle von rund 300 Fällen pro Tag in wochenlange harte Lockdowns ging und jeden neuen Fall als Bedrohung der Öffentlichkeit bezeichnet, ihre Grenzen wieder sicher öffnen? Würden Entscheidungsträger dann nicht riskieren, als Verantwortliche für die dann unvermeidbare neue Welle mitsamt den Todesfällen dazustehen? Die Regierung hat dafür einen Plan präsentiert. "Race to 80" heißt er, und damit ist gemeint: Sind einmal 80 Prozent der Bevölkerung geimpft, könne man wieder Menschen aus dem Ausland reinlassen.

Allerdings: Dass dann wirklich Herdenimmunität besteht, stellen viele Forscherinnen und Forscher angesichts neuer Varianten in Abrede. Und: Von "80" ist Australien noch weit entfernt. Etwa 35 Prozent der Bevölkerung haben bisher eine Immunisierung erhalten. Weil der Druck durch schwere Erkrankungen im Umfeld meist fehlte – und lange auch jener durch Lockdowns –, hat die Regierung Schwierigkeiten, die Menschen zur Impfung zu bringen.

Immerhin: Australien hat bereits einen Plan präsentiert. Neuseeland, das stolz darauf verweist, noch immer keine neue Welle zu haben, kann dies nicht behaupten. Zudem hat Premierministerin Jacinda Ardern stets betont, der Ankauf von Impfungen für ihr Land sei nicht so eilig – sie halte es für richtig, Staaten mit mehr Fällen Vorrang einzuräumen. Immerhin ein Viertel aller Kiwis hat bisher eine Dosis erhalten.

Ardern hat so wie viele Politikerinnen und Politiker Australiens viel Lob und Zustimmung für ihre Politik erhalten. Dennoch will sie am Donnerstag eine Wiedereröffnungsstrategie bekanntgeben. Ihr Land beginne an den Folgen des Arbeitskräftemangels zu leiden, schildert die Agentur Reuters. Es mangle in Pflege und Landwirtschaft, mittlerweile gibt es auch Streiks wegen der Überlastung der verbliebenen Arbeitskräfte.

Ein "new normal"

Darauf, dass eine solche Strategie auch fehlschlagen kann, wies jüngst die Ostasienplattform "East Asia Forum" hin, die die Entwicklung in Vietnam nachzeichnete. Dort hatte die Regierung ebenfalls auf striktes Grenzmanagement vertraut. Sie setzte auf einen selbstentwickelten Impfstoff. Dieser ist allerdings immer noch nicht fertig – Ende Mai aber verbreitete sich die Delta-Variante im Land, mittlerweile hält man bei 10.000 Fällen am Tag. Nicht viel in einem Land mit 100 Millionen Einwohnern, aber zu viel für das schwache Gesundheitssystem. Vietnam bemühte sich eilig um Impfstoffkäufe – noch aber herrscht Mangel.

Ein "new normal" werde es wohl sein, das am Ende der Pandemie stehen werde, meinte Lee Hsien Loong, der Chef der meist vorausschauenden Regierung von Singapur, in einer Rede Ende Mai. Wie genau das aussehen wird – darauf sind die Regierungen in der Region Antworten schuldig. (Manuel Escher, 11.8.2021)