Ein afghanischer Armeecheckpoint im Bezirk Enjil in der Provinz Herat Anfang August. In dem Gebiet häufen sich die Angriffe der Taliban.

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Je nachdem, was man alles dazurechnet, haben die USA in den vergangenen zwanzig Jahren 70 bis 90 Milliarden US-Dollar in den Aufbau der afghanischen Armee gesteckt: Wenn man sich manche Einheiten ansieht, fragt man sich, wo das Geld geblieben ist, kommentierte dies die "New York Times", als im Frühjahr parallel zum beschleunigten Abzug der USA und der Nato klar wurde, wie wenig die Afghanen an manchen Stellen der Offensive der Taliban entgegenzusetzen haben.

Auch am Mittwoch waren die Nachrichten aus Afghanistan wieder katastrophal: Neun der 34 Provinzhauptstädte haben die Taliban Medienberichten zufolge bereits erobert, 65 Prozent des Landes sollen sich bereits definitiv unter Kontrolle der religiösen Milizen befinden. Nun soll der Afghanistan-Beauftragte der USA, Zalmay Khalilzad, in Katar versuchen, die Taliban dazu zu überreden, an den Verhandlungstisch mit der afghanischen Regierung zurückzukehren.

Optimisten, aber auch Pessimisten – und angeblich die Taliban selbst – sind überrascht, wie schwach die von den USA ausgerüstete und trainierte Armee derzeit aussieht: umso mehr, als die US-Truppen ja ihren direkten Kampfeinsatz schon ab 2014 reduziert und zuletzt auf die Luft beschränkt hatten. Die afghanische Armee oder zumindest ein Teil davon galt als gut vorbereitet. Berichte des US-Generalinspektorats befassen sich zwar mit ihren Defekten, aber es wird auch auf Fortschritte verwiesen.

"Hell no, auf keinen Fall"

In einem "Foreign Policy"-Artikel Ende Juli weist ein afghanischer General vor Ort fast empört die Möglichkeit zurück, dass Lashkar Gah, die Hauptstadt der Provinz Helmand, an die Taliban fallen könnte: "Hell no, auf keinen Fall", sagt er, das Verhältnis von getöteten Armeesoldaten zu toten Taliban sei eins zu 60. In Lashkar Gah wird zwar weitergekämpft, die Stadt wird jedoch heute zu jenen gezählt, die die Taliban schon eingenommen haben.

Die afghanische Armee kämpft sich vielerorts erfolgreich zurück, dennoch bleibt das Déjà-vu nicht aus: Bevor die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) 2014 Mossul, die zweitgrößte Stadt des Irak, überrannte, galt diese wegen der starken Präsenz der irakischen Armee als uneinnehmbar. Aber diese Armee litt an Plagen, die man auch bei der afghanischen wiederfindet: Korruption, Waffen- und Munitionsschwund, Schattensoldaten, die es gar nicht gibt und deren Sold in den Taschen von anderen Leuten landet, mangelnde Loyalität, weil die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe – eine Ethnie, ein Stamm – größer ist als zur Nation, die sich mit einer schwachen Regierung in Kabul nicht gerade glaubwürdig präsentiert.

Müde und demoralisiert

Und es ist wohl auch manchmal ganz einfach die Angst: Wie jener des IS im Irak so hat auch der Vormarsch der Taliban mit Gewissheit einen gewissen psychologischen Effekt. Zuletzt setzen sich tausende Soldaten nach Tadschikistan ab. Viele sind müde und demoralisiert: 66.000 Soldaten sind bereits gefallen, die Zahl der Verletzten geht in die Hunderttausende. Nicht nur Kämpfe, auch Bombenanschläge fordern vermehrt Todesopfer, zuletzt an die 300 monatlich.

Die Rekrutierung ist schwierig geworden, auch in den Gebieten, die traditionell gegen die Taliban sind wie der Norden. Der Sold ist nicht hoch genug, das Risiko einzugehen. Vielleicht werden sich die Männer eher wieder ethnischen Milizen anschließen, um gegen die Taliban zu kämpfen: Dann wird aus dem Krieg wieder ein Bürgerkrieg.

Die oft genannte Stärke von 300.000 Soldaten und Soldatinnen (!) besteht jedenfalls nur auf dem Papier. Mit der Ausrüstung ist es oft ähnlich: Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was eine Einheit haben sollte, und dem, was sie hat. Einiges fällt den Taliban jetzt gerade wieder in die Hände: Ein Weg, das eigene Leben zu retten, ist, Waffen und Geräte den selbsternannten Gotteskriegern zu überlassen.

"Umgedrehte" Soldaten

Die Beziehung zwischen den USA und Afghanistan war oft schwierig: Die Afghanen beklagten die herablassende Attitüde, die Amerikaner waren misstrauisch: Bei sogenannten "Insider Attacks" wurden allerdings nicht nur US-Soldaten durch "umgedrehte" afghanische Soldaten getötet, sondern noch mehr Afghanen. Der Arm der Taliban reicht bis in die Armee.

Nicht nur die USA und ihre Nato-Verbündeten verlassen Afghanistan: Mit ihnen ziehen ihre militärischen Subunternehmer und Sicherheitsfirmen ab. Allein für die US-Armee waren bis zuletzt etwa 18.000 Mann im Einsatz, die, so sagen Militärexperten, eine Riesenlücke bei der Wartung des afghanischen Militärgeräts hinterlassen werden. Davon wird auch die afghanische Luftwaffe – die die Überlegenheit über die Taliban zumindest in der Luft gewährleisten soll – betroffen sein.

Es geht dabei aber nicht nur um den Zustand von Waffen und Gerät, sondern um viele andere militärische Aspekte von Kommunikation über Versorgungslogistik bis zu Bürokratie. Ob Afghanistan, wie Offizielle sagen, neue Verträge mit diesen Firmen abschließen könnte, bleibt abzuwarten: Wenn die rechtlichen Immunitäten für die "Contractors" wegfallen, die sie im Rahmen eines Einsatzes für die USA genießen, werden sie für ihre Arbeit in einem Staat, der immer gefährlicher wird, viel mehr Geld verlangen, zitiert NBC einen Experten. Das muss sich Afghanistan dann erst wieder leisten können. (Gudrun Harrer, 11.8.2021)