Weina Zhaos Familiengeschichte ist eine Geschichte der sozialen Gegensätze, anhand derer die Filmemacherin auch die jüngere Geschichte Chinas erzählt.
Foto: Filmstill Weiyena - Ein Heimatfilm

Die jüngere Geschichte Chinas ist von gewaltigen politischen und sozialen Umwälzungen geprägt: von der japanischen Kolonialherrschaft über Mao Tse-tungs Langen Marsch und die Kulturrevolution bis hin zum Marktsozialismus chinesischer Prägung. Es sind Umbrüche, die auch in der Familie von Weina Zhao tiefe Spuren hinterlassen haben. In "Weiyena – Ein Heimatfilm" legt die in Peking geborene und in Wien aufgewachsene Filmemacherin und Autorin bislang unbekannte Kapitel ihrer Familienbiografie frei.

Fünf Jahre lang arbeitete Zhao zusammen mit Co-Regisseurin Judith Benedikt an diesem autobiografischen Dokumentarfilm, der bereits mehrfach ausgezeichnet wurde.

STANDARD: In "Weiyena" erzählen Sie entlang der Lebensgeschichten Ihrer Großeltern und Eltern von der wechselnden Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert. Wie viel wussten Sie vor dem Film über Ihre beiden Familienseiten?

Weina Zhao: "In der Rolle als Regisseurin konnte ich all die Fragen stellen, die ich mich als Tochter oder Enkelin nie traute anzusprechen."
Foto: Maja Stajic

Zhao: Anfangs dachte ich, dass ich viel weiß, zumindest über die mütterliche Seite meiner Familie. Aber es wurde ziemlich schnell klar, dass dem nicht so war. Meine Mutter stammt aus einem wohlhabenden Schanghaier Intellektuellenmilieu. Mein Urgroßvater Ying Yunwei war einer der ersten Filmregisseure Chinas und prägte die damalige chinesische Filmszene mit. Als Kind habe ich die Geschichten über meinen Großvater geliebt, der schon in seiner Jugend ein Auto besaß und Whiskey trinkend um Goldbarren pokerte – so wie man sich das glamouröse Schanghai der 1920er- und 1930er-Jahre eben vorstellt. Mit der Kulturrevolution änderte sich alles: Meine Großeltern wurden inhaftiert, meine Mutter wurde nicht nur von ihren Eltern, sondern auch von ihrer Schwester getrennt. Sie war damals erst zwölf und wuchs die darauffolgenden Jahre ganz allein auf. Was all das für sie emotional bedeutete, war mir bis zur Arbeit am Film nicht wirklich bewusst. Völlig anders sah das Ganze in der Familie väterlicherseits aus: Die Großeltern waren mittellose Bäuer*innen und Dorfbewohner*innen aus dem ländlichen Nordosten Chinas. Unter Mao stiegen sie zu Arbeiter*innen auf und zogen nach Peking. Aufgrund ihrer Arbeiteridentität waren sie in ganz andere Kämpfe verwickelt. Während der Kulturrevolution wurden sie gezwungenermaßen zu Mitläufer*innen und machten sich zu Kompliz*innen bei der Verfolgung der intellektuellen Elite im Land.

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STANDARD: Während der Film vor allem die sozialen Gegensätze zwischen den beiden Familien thematisiert, wird die Migration Ihrer Eltern nach Österreich nur kurz behandelt. Waren deren – teils sehr schmerzvollen – Erfahrungen als junge Erwachsene während der Kulturrevolution ein Mitgrund, China zu verlassen?

Zhao: Ja. Mir ist erst durch den Film klargeworden, dass dieses Streben nach einem besseren Leben sehr prägend war für alle Menschen in China, nicht nur in meiner Familie. Man kann die Migration nach Österreich zudem als eine Flucht vor der Vergangenheit sehen. Die chinesische Auswanderung wird meist als Wirtschaftsmigration wahrgenommen, aber da steckt mehr dahinter. Die Zeit unter Mao war traumatisierend für so viele Menschen. Für sie hat der Wechsel in ein anderes Land auch bedeutet, ein Stück weit abschließen, die ständige Angst vor politischer Verfolgung ablegen zu können.

STANDARD: Wie haben Sie Ihre Großeltern und Eltern dazu gebracht, vor der Kamera von ihren Erlebnissen zu erzählen, über die so lange geschwiegen wurde?

Zhao: Das Bedürfnis, über die Vergangenheit zu sprechen, war schon lange da. Sobald die Kamera präsent war, spürten alle eine Art Berechtigung, über die Dinge zu reden – als Erbe an die nächsten Generationen, für das Bewahren der Erinnerung. Meine Mutter sagte mir im Nachhinein, dass sie mir nie von der Trennung von ihren Eltern erzählt hat, weil sie mich beschützen, mir diese schmerzhaften Erinnerungen ersparen wollte. Umgekehrt konnte ich erst in der Rolle als Regisseurin all die Fragen stellen, die ich mich als Tochter oder Enkelin nie traute anzusprechen. Weil auch ich niemandem zu nahe treten oder wehtun wollte. Interessanterweise hatte der Film diesbezüglich nur wenige Nachwirkungen. Ohne Kamera tue ich mir noch immer schwer, über bestimmte Themen zu reden, und ich falle zurück in meine "normale" Familienrolle. Ich würde auch nicht sagen, dass mit dem Film alles fertig aufgearbeitet wurde. Es war für uns alle sehr anstrengend.

STANDARD: Die Beschäftigung mit der Vergangenheit hat aber auch mit dem Bedürfnis zu tun, sich in der Gegenwart mit anderen neu zu verbinden.

Zhao: Absolut. Das ist mir aber erst mit der Zeit klargeworden. Als wir 2014 mit der Arbeit am Film begannen, hatte ich mich bis dahin kaum mit meiner Identität als asiatisch gelesene Frau in Österreich auseinandergesetzt. Das kam alles erst später, während des Prozesses des Filmemachens. Es war zeitgleich zu den Debatten in den US-amerikanischen Medien, als das Thema "Asian Representation" durch Filme wie "Crazy Rich Asians" an Aufwind gewonnen hat. Mir ist auch erst in den letzten Jahren des Filmemachens klargeworden, dass es auch darum geht, den Leuten in der Gegenwart zu zeigen: Es gibt Geschichten wie unsere – und wir können diese Geschichten selbst erzählen. Nachdem der Film bereits auf einigen Festivals zu sehen war, schrieben mich Leute an, die ebenfalls chinesische Wurzeln und ähnliche Erfahrungen haben, wie über Familie und Identität aus Perspektive der chinesischen Diaspora gedacht wird. Dieses Feedback von Menschen, die so wie ich als asiatisch gelesene Person in Deutschland oder Österreich aufgewachsen sind und sich erstmals gesehen und sich repräsentiert gefühlt haben, war total schön.

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STANDARD: Sehen Sie eine Parallele zwischen dem jahrzehntelangen Schweigen in Ihren Familien und der Zensur in der chinesischen Öffentlichkeit, sobald es um die Kulturrevolution geht?

Zhao: Die Kulturrevolution ist nach wie vor ein Thema, über das in China nicht offen diskutiert wird. 2016, rund um das fünfzigste Gedenkjahr zum Beginn der Kulturrevolution, gab es eine strikte Zensur, die seit letztem Jahr jedoch wieder gelockert wurde. Gleichzeitig interessieren sich die jungen Leute in China nur wenig dafür, zumal die wenigsten innerhalb ihrer Familien darüber hören. Es ist aber auch ein Überlebensmechanismus, der – wahrscheinlich unbewusst – von den Eltern und Großeltern mitgegeben wurde: Misch dich nicht in die Politik ein, das bringt dich nur in Schwierigkeiten. Das ist wohl ein Mitgrund, warum seit der Reform- und Öffnungspolitik Ende der 1970er-Jahre so viele aufs Konsumieren und Geldverdienen fixiert sind. In der Art: So kann ich mein Leben verbessern, ohne mich in Gefahr zu bringen.

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STANDARD: An einer Stelle im Film sagen Sie: "Meine Oma hat die Hosen in der Familie angehabt." Wie hat sich das Frauenbild in China seit der Kulturrevolution verändert?

Zhao: Es gibt den berühmten Spruch von Mao: Frauen tragen die Hälfte des Himmels. Tatsächlich wurden Frauen von den Kommunisten als Arbeiterinnen angesprochen, die dieselbe Arbeit verrichten können wie Männer – oberflächlich betrachtet fand eine Gleichstellung statt, die bis heute spürbar ist. Nicht zufällig ist China das Land mit den meisten Milliardärinnen und weiblichen CEOs. Aber seit den letzten Jahren kann man eine Retraditionalisierung beobachten. Durch die Ein-Kind-Politik, die bis 2015 herrschte, wurden sehr viele Mädchen abgetrieben – und man glaubte, dass rund 30 Millionen Mädchen in China fehlen. Heute weiß man, dass sehr viele dieser Mädchen geboren, aber nie registriert wurden, ihre Existenz ist also "illegal". Damit gibt es weiterhin das Problem, dass 30 Millionen Männer keine Frauen finden. Vor allem auf dem Land ist es so, dass Männer eher nach Frauen suchen, die bildungs- oder jobmäßig unter ihnen stehen. Angesichts dieser Schere hat sich das Narrativ der "übriggebliebenen Frau" herausgebildet, das der Staat selbst verbreitet – damit werden Frauen getriggert, möglichst früh zu heiraten. Was mir dabei wichtig ist zu betonen: Die Vorstellung über chinesische Frauen, wie sie vor allem im Westen vorherrscht – etwa dass sie unterwürfig seien und ihren Männern nie widersprächen –, stimmt einfach überhaupt nicht. Ich bin daher immer wieder überrascht, wenn ich auf die "starken Frauen" in meiner Familie angesprochen wurde. Für mich ist das etwas ganz Normales. (Vina Yun, 30.8.2021)