Die verunsicherte Reiterin Schleu auf dem verunsicherten Pferd.

Foto: imago images/Sven Simon/Frank Hoermann

Auch knapp eine Woche nach ihrem olympischen Reitdrama hat Fünfkämpferin Annika Schleu mit den Folgen zu kämpfen. "Die vergangenen Tage waren für mich in mehrfacher Hinsicht schockierend", sagte die 31-Jährige im Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit". Sie sei zwar mit der "Erwartung einer Medaille" nach Tokio geflogen, aber "der Hass, der mir in den sozialen Medien begegnet ist, hat die Enttäuschung über die verpasste Medaille überlagert."

Ihre Social-Media-Aktivitäten hat sie deshalb heruntergefahren. "Ich bin fast so weit zu sagen, es ist mir wichtiger, das mental zu bewältigen, als Sponsoren zu generieren", sagte die Berlinerin: "Ich will mich nicht diesem Hass aussetzen müssen."

Wettkampfsituation

Die auf Goldkurs liegende Schleu hatte bei der Reitdisziplin unter Tränen versucht, das ihr zugeloste und völlig verunsicherte Pferd "Saint Boy" mit Gerte und Sporen zurück in den Parcours zu bringen. Bundestrainerin Kim Raisner hatte sie dazu mit einem heftig umstrittenen Zuruf ("Hau drauf, hau richtig drauf!") zudem animiert. Schleu antwortete laut eigener Aussage mit": "Mache ich ja!", Nachsatz im Interview: "Aber in dem Maß, wie ich es für richtig hielt."

In der Nachbetrachtung hätte sie "ein bisschen ruhiger und besonnener reagieren können", gab Schleu zu, "man hat bloß in der Wettkampfsituation, in dem Stress nicht so viel Zeit. Und ich hätte eventuell früher sagen können, okay, es hat einfach keinen Wert." Aber sie habe sich in einem Zwiespalt befunden. "Hat es jetzt wirklich keinen Sinn mehr? Oder braucht es noch diesen kleinen Anschubser? Das war verdammt schwierig abzuwägen."

Zum Reiten begonnen habe sie mit sechs Jahren. "Es war mein Hobby. Ich habe es sehr gemocht. Springreiten kam erst durch den Fünfkampf hinzu."

Keine Tierquälerei

Gegen den Vorwurf der Tierquälerei wehrte sich die Sportsoldatin aber erneut vehement. "Ich habe das Pferd nicht extrem hart behandelt. Ich hatte eine Gerte dabei, die vorher kontrolliert wurde. Genauso wie die Sporen. Ich bin mir wirklich keiner Tierquälerei bewusst", sagte Schleu. Nachdem sie sich die Zeitlupen der Szenen nochmals angesehen habe, könne sie aber verstehen, "dass das bei den Zuschauern etwas auslöst."

Rückendeckung hatte die Fünfkämpferin noch während Olympia von den Athleten Deutschland e.V. erhalten, vom Weltverband UIPM mit dem deutschen Präsidenten Klaus Schormann fühlt sich Schleu aber "auf jeden Fall alleingelassen". Schormann selbst habe "nicht einmal mit mir gesprochen, ich kenne nur die Pressemitteilungen".

Das Los-Prozedere

Schleu ging im "Zeit"-Interview den kompletten Wettkampf nochmals durch und auch auf das viel kritisierte Los-Prozedere ein. Denn die Teilnehmer und Teilnehmerinnen im Modernen Fünfkampf bestreiten den Reitbewerb nicht mit eigenen Pferden. Die zugelosten Tiere kämen immer aus dem Land des Ausrichters, erklärt Schleu. "Zwei Tage vor dem Wettkampf werden die Tiere vom Besitzer oder Bereiter vorgestellt. Unser Weltverband wählt dann die 18 Tiere aus, die am besten für unsere Sportart geeignet sind."

Und dann findet eben eine Auslosung statt. "Die Führende lost eine Nummer. Die übrigen Pferde werden dann nach Reihenfolge der Zwischenstände den anderen Athleten zugeordnet". Jedes Pferd bewältige den Parcours zweimal. "Wenn man unter den vorderen 18 Athleten ist, wurde das Pferd also bereits von einem Athleten der hinteren Gruppe geritten." Das könne ein Vorteil sein, weil man es schon mal in der Wettkampfsituation beobachten kann. "Es kann aber auch sein, dass das Pferd in der ersten Runde eine schlechte Erfahrung macht. Und so war das bei mir."

Die Vorzeichen

"Saint Boy" habe sich bereits im ersten Durchgang bei der Russin Gulnas Gubaidullina nicht wohl gefühlt. Schleu beobachte dies. "Daraufhin rief ich meine Bundestrainerin an und fragte, ob ich ein Ersatzpferd nehmen dürfe. Diese Bitte wurde jedoch vom Weltverband abgelehnt, es hieß, ein Tausch sei nur dann möglich, wenn der Tierarzt eine Verletzung feststellt." Dieser kümmerte sich aber "nur um den körperlichen Zustand, leider nicht um den emotionalen."

Schleu konnte sich schließlich vor dem Wettkampf 20 Minuten mit "Saint Boy vertraut machen. Dabei wirkte das Pferd "gar nicht mehr nervös." Auch die Probesprünge gelangen, die Deutsche war daher "guter Dinge". Aber beim "Angaloppieren blockte das Pferd komplett ab, ging fast nur noch rückwärts." Der Anfang vom Ende. "Die Sekunden, die dann verstrichen, haben sich für mich viel länger angefühlt, es war eine ausweglose, schwierige Situation für das Pferd und für mich."

Die Sportlerin hat sich mit einer Sportpsychologin über die Geschehnisse unterhalten. Sie wünscht sich nun Änderungen im Modernen Fünfkampf, vor allem "die Regel, ab wann man einem Pferd nicht mehr zumutet, noch mal in den Parcours zu gehen. Der größte Fehler war, Saint Boy nicht auszutauschen." (sid, red, 11.8.2021)