Soziologe Max Haller liefert in seinem Gastkommentar drei Erklärungen, warum Politikerinnen und Politiker immer wieder beim Abschreiben erwischt werden.

Es ist erstaunlich, wie sich die Fälle wiederholen, in denen Politikerinnen und Politiker des Plagiats überführt werden. Gerade hat sich die bürgerlich-konservative Welt in Deutschland noch schadenfroh über das fragwürdige diesbezügliche Verhalten der Spitzenkandidatin der Grünen ausgebreitet, dann kamen auch schon ähnliche Vorwürfe gegen den Kanzlerkandidaten der CDU. Seit 2011 traten ein Bundesminister und zwei Bundesministerinnen wegen einschlägiger Vorwürfe zurück.

Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin der deutschen Grünen, legte ein Buch mit vielen abgeschriebenen Passagen vor. Ihr konservativer Konkurrent Armin Laschet musste später Fehler in seinem Buch einräumen.
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Ähnliche Fälle gibt es natürlich auch in Österreich. Eine Ministerin der jetzigen Regierung trat zurück, weil ihre an der Fachhochschule Wiener Neustadt verfasste Diplomarbeit von inhaltlichen und sprachlichen Mängeln strotzte; sie hatte die Dreistigkeit, sich von einer Universität in Bratislava auch noch einen Doktortitel verleihen zu lassen. In der Regel sind Rücktritte nach ähnlichen Vorwürfen in Österreich jedoch seltener. Ein steirischer Landesrat, dem der Doktortitel aberkannt wurde, amtiert weiterhin als Abgeordneter im Bundesrat.

Jeder Winkel wird durchleuchtet

Bei mehreren ehemaligen Ministern wurden Prüfungen ihrer Abschlussarbeiten durchgeführt, dann jedoch eingestellt; einer von ihnen wurde ein wichtiger EU-Kommissar. Einige der führenden Mitglieder in der derzeitigen Regierung beziehungsweise des Parlaments haben ihr Studium abgebrochen. Warum haben Politiker ein so problematisches Verhältnis zu akademischen Abschlussarbeiten beziehungsweise einwandfreien Buchpublikationen? Vorauszuschicken ist dazu, dass Politiker zweifellos stärker als jede/r Normalsterbliche unter öffentlicher Beobachtung stehen. Kritische Journalisten, professionell-kommerzielle Plagiatsprüfer (meist als Plagiatsjäger tituliert), aber vor allem politische Gegner durchleuchten jeden Winkel ihres Lebenslaufs.

Ganz generell sind (waren) zweifellos die meisten (angehenden) Politikerinnen und Politiker fähig, eine einwandfreie wissenschaftliche Abschlussarbeit zu verfassen.Von den jetzigen Regierungsmitgliedern hat die große Mehrheit einen akademischen Titel; zwei davon sind anerkannte Universitätsprofessoren. Man kann drei Gründe dafür nennen, warum Plagiatsfälle bei Politikern doch relativ häufig vorkommen.

Rund um die Uhr

Zum Ersten: Politik ist ein "gefräßiger Beruf" (greedy occupation) – ein Begriff, den amerikanische Soziologen geprägt haben. Ein Politiker ist rund um die Uhr beschäftigt, seine Arbeit ist oft besonders nervenaufreibend und eigentlich nie abgeschlossen. Dies trifft sicher auch auf ambitionierte Jungpolitiker zu, wenn sie das Gefühl haben, bei ihrem Publikum anzukommen. Dieser Zeitdruck kann leicht in Konflikt mit den Anforderungen an das Verfassen einer wissenschaftlichen Abschlussarbeit oder eines Buchs geraten, das Zeit, Muße und Durchhaltevermögen erfordern. Daran scheitern nicht selten auch manche bis dahin erfolgreiche Studierende.

Zum Zweiten: Politiker sind, wie jeder von uns, aber vielleicht berufsbedingt noch stärker, an ihrem Bild in der Öffentlichkeit interessiert. Eitelkeit ist laut dem großen deutschen Soziologen Max Weber die "Berufskrankheit" der Politiker. Ein akademischer Titel ist keine Voraussetzung für die Ausübung einer politischen Funktion, kann das Ansehen aber vielleicht fördern. Aus demokratiepolitischer Hinsicht wäre es sogar wünschenswert, dass weiterhin mehr Nichtakademiker (die noch immer die große Mehrheit der Bevölkerung ausmachen) wichtige politische Positionen einnehmen. Die Hauptanforderungen an Politik als Beruf sind nicht unbedingt Fachwissen, sondern eher ein breites (vielleicht auch nur oberflächliches) Allgemeinwissen, Fähigkeiten zum Netzwerken und Reden (Max Weber). Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass nicht weniger als sieben Regierungsmitglieder Juristen sind, aber Funktionen ausüben, für die zweifellos andere Fachkenntnisse nützlicher wären.

Zum Dritten: Wenn nicht wenigen Politikern nachgewiesen wird, dass sie wissenschaftlich fragwürdige Arbeiten ablieferten, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass dies auch bei vielen anderen Magistern, Magistras und Doktoren der Fall war. Hier spielen die akademische Welt und ihre Hauptvertreter, die Professoren als Betreuer der Abschlussarbeiten, eine zentrale Rolle. Dass man Gefälligkeitsnoten und akademische Grade verteilt, ist heute zweifellos viel seltener geworden als noch in den 1960er-Jahren, als etwa Tausende "Dr. Graz" an deutsche Studierende der Staatswissenschaften verliehen wurden. Das Niveau der Abschlussarbeiten ist entgegen weitverbreiteter Meinung signifikant gestiegen.

Zaghafte Schritte

Zu einer Abschwächung des typischen Strebens nach einem akademischen Titel mag die Tatsache beitragen, dass durch die allgemeine Zunahme der Hochschulausbildung diese an Exklusivität verliert. Auch die zaghaften, aber notwendigen Schritte zu einer Lockerung von Schulabschlüssen und einer Öffnung von Positionen im öffentlichen Dienst zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung von Erfahrung und Bewährung können dazu beitragen. (Max Haller, 13.8.2021)