Experten beobachten bereits alarmiert die steigenden Infektionszahlen unter den Jüngsten.

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"Es entwickelt sich zu einer Pandemie der Ungeimpften", twittert Carsten Watzl, Immunologe vom Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund. Und auch der Epidemiologe Gerald Gartlehner betonte im Ö1-"Morgenjournal" zuletzt: "Die nächste Welle der Neuinfektionen trifft die Ungeimpften." Diese Prognose umfasst auch die Kleinsten unter uns, die in den kommenden Wochen zunehmend betroffen sein werden.

In den USA erkranken immer mehr Kinder an Covid-19. Und auch die Fälle jener häufen sich, die im Krankenhaus behandelt werden müssen. Dem Wochenbericht der American Academy of Pediatrics und der Children's Hospital Association zufolge wurden allein in der ersten Augustwoche fast 94.000 Corona-Fälle bei Kindern dokumentiert. 203 kamen in diesem Zeitraum täglich ins Krankenhaus, in der Woche zuvor waren es noch 168, wie die Grafik der amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC zeigt.

Zuletzt hat es in dieser Altersgruppe im Jänner so viele Einlieferungen gegeben, auf dem Höhepunkt der Covid-Welle in den USA. Für Gesundheitsexperten ein Grund, Alarm zu schlagen.

Altersschnitt sinkt

Die Zahl der Krankenhauseinweisungen in der Pädiatrie liege aktuell – gemessen an der Bevölkerungszahl – 3,75-mal höher als noch vor einem Monat, titelt ABC News. Mark Kline, Chefarzt des Kinderkrankenhauses von New Orleans, spricht in der ABC-Sendung "Good Morning America" von einer "Rekordzahl von Kindern im Krankenhaus" und einer "Epidemie bei sehr jungen Kindern". Und der US-Epidemiologe Eric Feigl-Ding legt das Durchschnittsalter eines pädiatrischen Covid-19-Patienten im Ochsner Medical Center New Orleans via Twitter auf fünf Jahre fest.

Der US-Virologe Anthony Fauci, Berater von Präsident Joe Biden, appelliert indes auch in der NBC-Sendung "Meet the Press", zum Schutz der Kinder das Augenmerk auf die Ausbreitung von Delta zu legen. Das Gesundheitspersonal sei jedenfalls in den betroffenen Krankenhäusern bereits am Limit. "Unsere Kinderärzte, die Krankenschwestern, das Personal sind erschöpft, und die Kinder leiden. Es ist absolut verheerend", sagte die Expertin für Infektionskrankheiten an der Florida International University, Aileen Marty, CNN. "Solche Zahlen haben wir noch nie gesehen", klagt sie.

Mehrheitlich milde Verläufe

Bislang hieß es immer, Kinder und Jugendliche hätten ein eher geringes Risiko schwer an Covid zu erkranken. "Die Aussage bestätigt sich", twitterte kürzlich Carsten Watzl im Zuge neuer Studienergebnisse aus Großbritannien, die im Fachblatt "The Lancet – Child & Adolescent Health" veröffentlicht wurden. Die Untersuchung liefert Daten zu Krankheitssymptomen- und Dauer einer Corona-Infektion bei Kindern zwischen fünf und 17 Jahren.

1.734 Kinder und deren Symptome wurden dafür dokumentiert. Bei einer durchschnittlichen Dauer von etwa sechs Tagen litten 62 Prozent an Kopfschmerzen, 55 Prozent unter Abgeschlagenheit, gefolgt von Fieber, Halsschmerzen, Husten und Verlust des Geruchssinns (circa 40 Prozent), resümiert Watzl. "Die meisten Kinder haben keine längeren Probleme, bei wenigen (1 bis 2 Prozent) kommt es aber zu langanhaltenden Symptomen für mehr als zwei Monate, und das ist mehr als in einer Kontrollgruppe", schreibt Watzl in einem Thread.

Lediglich 4,4 Prozent der Kinder hätten für mehr als 28 Tage Symptome aufgewiesen, 2,1 Prozent mussten hospitalisiert werden. "Die Schwere der Symptome hat aber über die Zeit abgenommen. Die Kinder erholen sich", lautet die frohe Botschaft.

US-Daten zeigen: Risiko steigt

Ähnliches weiß auch Wassam Rahman, ärztlicher Direktor am Johns Hopkins All Children's Hospital in Florida, aus der täglichen Praxis zu berichten: "Die meisten Kinder sind nicht sehr krank", sagt er und beschreibt die üblichen Symptome der Kleinen mit laufenden Nasen, Husten und Fieber. Meistens könne das zu Hause auskuriert werden.

Obwohl das eigentlich einer Entwarnung gleichkommt, zeichnen andere US-Mediziner ein gegenteiliges Bild. Denn Berichten zufolge werden derzeit mehr schwerkranke Kinder in Kliniken behandelt als je zuvor. Könnte das an der Delta-Variante liegen?

"Es gibt bisher keine handfesten Beweise dafür, dass die Erkrankung bei Delta schwerer verläuft", zitiert der "Spiegel" den leitenden Pathologen des Texas Children's Hospital, Jim Versalovic. Studien zeigen wohl, dass die Mehrheit der Heranwachsenden im Falle einer Infektion nur milde Verläufe aufweist, die Datenlage speziell zu Delta sei allerdings noch dünn. Im Texas Children's Hospital weisen derzeit rund zehn Prozent der Kinder einen positiven Corona-Test auf. "Wir sehen zwar gerade sehr schwere Fälle, aber wir haben während der Pandemie schon häufiger schwere gesehen", wie Versalovic betont.

Dass Krankenhausaufenthalte bei Kindern steigen, könnte kausal mit den weltweit steigenden Fallzahlen zusammenhängen. Denn auch in den USA spielt die Delta-Variante eine wesentliche Rolle beim besorgniserregenden Anstieg der Neuinfektionen. Zuletzt wurde laut CDC ein Sieben-Tage-Schnitt von 97.400 Neuinfektionen täglich gemeldet. Und: Je mehr Menschen sich infizieren, desto höher ist auch die Zahl der schweren Verläufe oder Hospitalisierungen.

Impfdilemma

Das Problem: Die Impfquote der Zwölf- bis 17-Jährigen ist immer noch längst nicht so hoch wie die der Erwachsenen. In Österreich wird versucht, diese Altersgruppe zügig durchzuimpfen, damit zu Schulbeginn möglichst viele Schüler immunisiert sind. In Deutschland hingegen wird das Impfen der Jungen erst seit Mitte August empfohlen.

In den USA werden die Jungen schon länger geimpft. Genaue Statistiken gibt es allerdings nicht. Der Seuchen- und Präventionsbehörde CDC zufolge sind bisher kaum 30 Prozent der Zwölf- bis 15-Jährigen vollständig immunisiert. Bei den 16- und 17-Jährigen sind es 41 Prozent. Kinder unter zwölf Jahren können noch nicht geimpft werden, da der Impfstoff für diese Altersgruppe nicht zugelassen ist – weder in Europa, noch in den USA.

Der Pharmakonzern Biontech/Pfizer gab im Juni bekannt, den Impfstoff für die Kleineren bereits zu erproben. Berichten von CBS News zufolge will der Pharmariese den Antrag auf Zulassung bei der FDA im Winter stellen, erste Studienergebnisse werden für den frühen Herbst erwartet. Die europäische Arzneimittelbehörde EMA könnte dann folgen. Der US-Immunologe Fauci hofft sogar auf eine vollständige Zulassung in den kommenden Wochen, wie er kürzlich in einer NBC-Sendung mitteilte. Spätestens dann wächst der Druck auf die Behörden.

Delta als Lauffeuer

Ob das den nationalen Impfkommissionen reichen wird, um eine generelle Impfempfehlung auszusprechen, bleibt abzuwarten. Mittlerweile hat die Ständige Impfkommission (Stiko) in Deutschland bei den über Zwölfjährigen umgeschwenkt und empfiehlt die Immunisierung flächendeckend. Denn solange sich die Impfquote der Jungen nicht deutlich erhöht, treffen Neuinfektionen mit der Delta-Variante genau diese Altersgruppe.

Gerade sie haben nämlich vermehrt Kontakt zu haushaltsfernen Personen – in der Freizeit, im Kindergarten, beim Sport oder demnächst auch wieder im regulären Schulbetrieb. Da Delta Schätzungen zufolge um 60 Prozent infektiöser ist als die vorherigen Varianten, breitet sich diese Version des Virus wie ein Lauffeuer unter den ungeimpften Jungen aus. Auch europäische Länder, darunter Österreich und Deutschland, beobachten bereits steigende Corona-Fälle in dieser Altersgruppe.

Dass von einem Anstieg der schweren Verläufe bei Kindern vor allem die USA betroffen sind, könnte mit deren Bevölkerungsstruktur zusammenhängen. Dort leben deutlich mehr übergewichtige Heranwachsende als in Europa. Und Übergewicht zählt zu den maßgeblichen Risikofaktoren eines schweren Covid-Verlaufs.

Risikofaktoren

Darauf bezieht sich auch der Chef der Ständigen Impfkommission am deutschen Robert-Koch-Institut, Thomas Mertens, in einem Interview mit dem "Spiegel" Anfang August, in dem er sagt: "In den USA wird die Impfung für Zwölf- bis 17-Jährige empfohlen, aber dort ist auch die Krankheitslast durch Covid-19 in diesem Alter viel größer als in Deutschland." Das liege wahrscheinlich daran, dass dort "mehr Kinder ein metabolisches Syndrom – Übergewicht, Bluthochdruck, einen gestörten Fettstoffwechsel und hohen Blutzucker – haben."

Außerdem sei die medizinische Versorgung vieler Kinder in den USA "etwas schlechter als bei uns". Eine generelle Maskenpflicht gibt es ebenso nicht. Lediglich in einigen Bundesstaaten ist diese in geschlossenen Räumen und bei Veranstaltungen verordnet worden. Die US-Seuchenschutzbehörde CDC empfiehlt das Maskentragen in Innenräumen auch für Geimpfte. Schülerinnen und Schülern wird mit Schulbeginn das Tragen einer Maske empfohlen, die Entscheidung über eine Pflicht an den jeweiligen Schulen liegt jedoch bei den einzelnen Bundesstaaten.

Long-Covid-Welle bei Jungen?

"Die jetzt anrollende Ansteckungswelle in den Schulen ist besorgniserregend", kommentiert der Gesundheitsexperte Karl Lauterbach via Twitter die Zahlen aus den USA. Ohne Impfung und Luftfilteranlagen werde das kein normales Schuljahr. Obwohl das Risiko für Kinder, schwer zu erkranken, als gering eingeschätzt wird, mehren sich die Hinweise, dass Long Covid auch bei den Kleinen zum Problem werden könnte.

Gegenwärtig gebe es noch keine aussagekräftigen Studien, aber zwei bis vier Prozent der Betroffenen werden wohl an Long Covid erkranken, meint Lauterbach: "Ob alle neurologischen Symptome ganz ausheilen, ist auch unklar." Und: "Wäre Wahnsinn, wenn wir nach Impfung Erwachsener Kinder ungeschützt ließen", legt er auf Twitter nach.

Klares Alarmsignal

Die Berichte aus den Krankenhäusern in Houston bezeichnet Lauterbach indes als "eine klare Mahnung". Er schreibt: "Wir haben bisher keine Erfahrung mit der Delta-Variante bei regulärem Unterricht. Sehr hohe Fallzahlen sind zu erwarten. Dass Long Covid ausbleibt, ist Wunschdenken."

Solange die Quote der Geimpften also nur langsam steigt und die Bevölkerungsgruppe der unter Zwölfjährigen nicht geimpft werden kann, schützen ausschließlich die gängigen Hygiene- und Abstandsregeln inklusive des Tragens einer Maske vor einer Infektion oder einem schweren Verlauf. Denn: Je mehr Menschen geimpft sind, desto kleiner wird ihr Infektionsrisiko. Und ist die Zahl der Neuinfektionen gering, sinkt auch für Kinder und Jugendliche das Risiko, schwer an Covid zu erkranken. (Julia Palmai, 17.8.2021)