Bei Ambermed in Wien werden nichtversicherte Menschen betreut. Die Praxis ist Teil eines Pilotprojekts zur Gesundheitsförderung.

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Oft, sehr oft, kommt eine ältere Dame in die Ordination und klagt über Schmerzen. An Tagen, an denen Pensionistenklubtreffen stattfinden, bleibt sie aber konsequent fern. Es ist naheliegend, dass ihre Beschwerden auch andere Ursachen haben als rein körperliche. Aber wie soll der Hausarzt mit vollem Wartezimmer dieser Frau nachhaltig weiterhelfen?

Fälle wie dieser sind in Österreichs Arztpraxen weitverbreitet. Sie betreffen Menschen jeglichen Alters und diverser sozialer, oft benachteiligter Gruppen. Aber wie lassen sich die wahren Ursachen von Beschwerden erkennen, wenn Kassenärztinnen und -ärzte unter zunehmendem Zeitdruck arbeiten? Und welche Ressourcen bräuchte es, damit dort auch auf Probleme wie Einsamkeit oder Überforderung reagiert werden kann? Auf Sorgen wegen Schulden, Wohnungs- und Jobverlust oder Identitätskrisen?

Soziale Bedürfnisse mitdenken

Genau diesen Fragen versucht ein Projekt in Österreich nun systematisch nachzugehen. Ordinationen konnten dafür Vorhaben einreichen, die das Ziel haben, die sozialen und psychischen Bedürfnisse der Menschen mitzudenken und entsprechende Maßnahmen zu verschreiben. Die Ausschreibung richtete sich vor allem an Gruppenpraxen und Primärversorgungszentren. Von 17 Einreichungen wählte die Projektsteuerungsgruppe aus Vertretern des Gesundheits- und des Sozialministeriums, des Dachverbands der Sozialversicherungsträger, der Gesundheitskasse und der Stadt Wien neun Projekte in vier Bundesländern aus. Insgesamt stellt das Ministerium ihnen 285.000 Euro zur Verfügung.

Hilfsangebote sichten

Die eigentliche Spezialisierung der Teampraxis Breitenecker in Wien-Mariahilf, aus der das Beispiel von der älteren Dame mit Schmerzen stammt, liegt auf Menschen mit HIV und auf Transgender-Personen. Auf Letztere fokussiert das Social-Prescribing-Projekt dort. Manche seien mit den Anforderungen, die an sie gestellt werden, wenn sie eine Geschlechtsangleichung wünschen, überfordert, sagt Cornelia Feichtinger, diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin der Praxis und dort Projektleiterin. Diese Menschen bräuchten Anlaufstellen, um sich beraten zu lassen oder auszutauschen. Andere suchen einfach eine Frauenärztin oder einen Urologen, die oder der Transgender-Personen gegenüber aufgeschlossen ist.

"Mit dem Projekt wird uns Zeit geschenkt, die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten noch genauer zu erheben und Netzwerkarbeit zu betreiben", sagt Feichtinger. An die Arztpraxis ist bereits ein Verein angedockt, der Transgender-Personen berät. In den nun zusätzlich bezahlten Arbeitsstunden werden systematisch Anlaufstellen gesichtet und weitere Kontakte aufgebaut.

Vorbild Großbritannien

Das Gesamtprojekt läuft unter dem Schlagwort "Social Prescribing" und ist Teil des Plans von Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne), Gesundheitsförderung in Österreich auf neue Beine zu stellen. Der Ansatz stammt aus Großbritannien. Vergangenes Jahr wurde ein Projekt bei den Innovation in Politics Awards ausgezeichnet, das in Oldham, Großbritanniens Ort mit der geringsten Lebenserwartung, ausgerollt wurde. Dabei taten sich das öffentliche Gesundheitswesen und kommunale Dienste zusammen, um nichtmedizinische Dienste zu verschreiben. Tatsächlich soll sich die Zahl der Arztbesuche in der Folge verringert haben.

Ein weiterer Fördernehmer des Social-Prescribing-Projekts in Österreich ist das Gesundheitsnetzwerk Raabtal im Burgenland, das unter anderem auf überalterte Bevölkerung fokussiert. Aus Oberösterreich nimmt die "Hausarztmedizin plus Haslach" teil, die einen ihrer Schwerpunkte auf Personen mit Herzerkrankungen beziehungsweise Risikofaktoren dafür legt. Auch zwei steirische Einrichtungen sind mit an Bord. Zu den Wiener Projekten gehören das Primärversorgungszentrum Mariahilf, das Minister Mückstein mitgegründet hat und das den Fokus auf ältere Menschen legt, sowie der Verein Neunerhaus, der im fünften Bezirk eine allgemeinmedizinische Praxis für Leute ohne E-Card, insbesondere Wohnungslose, betreibt.

Das aktuelle Projekt nutze man dazu, Kooperationen für einen neuen Standort in Favoriten aufzubauen, wo Fachärzte Nichtversicherte ehrenamtlich behandeln sollen, erklärt Neunerhaus-Geschäftsführerin Daniela Unterholzner. Dabei soll der Blick auf "alles, was guttut", ausgeweitet werden. Also auch auf soziale und kulturelle Angebote, zu denen die Neunerhaus-Zielgruppe oft keinen Zugang habe. Das sei wichtig, betont Unterholzner, "weil Gesundheit weit mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit".

Vorhandene Ressourcen nutzen

Ähnlich sieht es Heinz Fronek von der Diakonie. Er ist für das Social-Prescribing-Projekt bei Ambermed zuständig. Ambermed versorgt Nichtversicherte, großteils ohne österreichische Staatsbürgerschaft. Man sei viel mit "ganz basalen Problemen" konfrontiert, für Gesundheitsförderung hätten die Patienten oft keine Ressourcen. "Aber ein Teil des Social-Prescribing-Projekts legt den Fokus auf die Entwicklungspotenziale der Menschen", sagt Fronek. Also zum Beispiel darauf, wie man es nutzen könne, wenn eine Frau aufgrund einer Schwangerschaft plötzlich Interesse zeige, sich mehr zu bewegen.

Übergeordnetes Ziel der aktuellen Projektphase, die bis Jahresende läuft und mit Schulungen, Evaluation und Dokumentation einhergeht, ist die Erstellung eines Handbuchs. Federführend ist die Gesundheit Österreich GmbH, die das Projekt fachlich leitet. Das Handbuch soll es dann ermöglichen, Social Prescribing auf ganz Österreich auszurollen.

Bei Ambermed in Wien werden nichtversicherte Menschen betreut. Die Praxis ist Teil eines Pilotprojekts zur Gesundheitsförderung. (Gudrun Springer, 13.8.2021)