Michael Köhlmeier geht es gut, und doch verspürt er derzeit auch ein deutliches Gefühl des Mangels. Das, woran es ihm mangelt, ist ein Plan für ein neues großes Buchprojekt. Ohne ein solches ist das Lebensgefühl für einen immens produktiven Schreiber, wie Köhlmeier einer ist, nicht perfekt, bleibt ein Manko, das ausgeglichen gehört.

Dass Köhlmeier sich auf seinen Lorbeeren ausruhen würde, kann man ihm wahrlich nicht vorwerfen. Denn während er schon in die Zukunft denkt, ist sein neues, gewichtiges Opus noch nicht einmal offiziell in den Buchhandlungen.

Seine Fans werden sich bis zum 23. August gedulden müssen, ehe sie Matou in Händen halten, einen knapp an der Tausend-Seiten-Grenze kratzenden Roman, der aus der Perspektive eines Tieres, dem titelgebenden Kater Matou erzählt wird. Nach Schrödingers Katze jetzt also Köhlmeiers Katze.

Miauendes Untier

Viereinhalb Jahre Arbeit stecken in dem Buch, erzählt mir Köhlmeier bei einem Frühstück in seiner Wiener Wohnung (das Gespräch wurde auf Vorarlbergerisch geführt, erscheint hier aber aus sprachlicher Rücksichtnahme in hochdeutscher Transkription). Auf dem feuerroten Umschlag des druckfrischen Exemplars prangt ein von Köhlmeiers Frau Monika Helfer gezeichneter Kater, welcher Leserinnen und Lesern schnurgrad in die Augen blickt.

"Er hat keinen freundlichen Blick", meint Köhlmeier, und, in der Tat, es hat schon Katzen gegeben, die ihre Besitzer sanftmütiger gemustert haben als diese hier. Matou erweist sich denn auch als ein zwar überaus gebildeter und wortgewaltiger Kater, aber er zieht, vor allem im Umgang mit Mäusen, alle Register von wüsten Katzengrausamkeiten.

Mit Katzen kennen sich Köhlmeier und Helfer aus. Seit Jahrzehnten leben sie mit diesen Tieren, "einmal mit mehr, einmal mit weniger". Die derzeitige Konstellation ist die, dass der Kater der beiden, ein liebenswürdiger Schüchti, von einer resoluten Nachbarskatze, "einem schönen, dreifärbigen Mädchen", quasi aus dem Haus geworfen wurde und nur noch ab und zu einpendelt. Den stärksten Eindruck von der Katzenpopulation, die durch ihre Hände gegangen ist, hat aber Siamkater Kurt hinterlassen.

Auf dem Buchumschlag prangt ein von Köhlmeiers Frau Monika Helfergezeichneter Kater.
Illustration: Monika Helfer

"Kennen Sie Siamkatzen?", fragt Köhlmeier. Ich weiß, wie sie aussehen, hatte aber nie persönlich mit einer zu tun. "Siamkatzen miauen fast nie. Aber wenn die miauen, klingt das nicht wie eine Katze, sondern wie ein Untier, bei dem es einem die Haare aufstellt. Köhlmeier erinnert sich an eine Begegnung seines Katers mit einem Cockerspaniel aus der Nachbarschaft, von dem sich Kurt völlig unbeeindruckt zeigte, den fellbedeckten Körper aufblähte und einen warnenden Siamkatzensound von sich gab. "Dr Spaniel hat si vor lutr Angscht agsoacht (der Spaniel hat sich aus lauter Angst anuriniert, Anm.) und ist mit schlotternden Beinen davongerannt. Ja, der Kurt, der war schon eine Instanz."

Unter der Guillotine

Die Inspiration, einen Kater zum Erzähler und Helden zu machen, kam allerdings nicht aus dem eigenen Katzenbestand. "Die Idee ist entstanden, als ich auf einen Stahlstich aus der Französischen Revolution gestoßen bin. Man sieht eine ganze Schar von Hunden und Katzen, die sich unter einer Guillotine versammelt haben, um sich am Blut der Geköpften zu laben. Ist das nicht verrückt? Die Katzen schlecken das Blut auf, ohne jedes Wissen, was sich da überhaupt abspielt. Und ich habe mich gefragt: Wie wäre es, wenn mir ein Kater erzählen würde, was in ihm vorgeht? Irgendwie ist mir in diesem Moment schlagartig die Konstruktion des gesamten Romans eingefallen."

"Ich habe mich gefragt, wie es denn wäre, wenn mir ein Kater erzählen würde, was in ihm vorgeht", erklärt Michael Köhlmeier.
Foto: Peter-Andreas Hasspiepen

Anders, als es bei seiner schriftstellerischen Arbeit häufig sonst der Fall ist, wusste Köhlmeier damals sofort, was das Thema des Buches sein sollte: "Eine Geschichte der Aufklärung von der Französischen Revolution bis heute, erzählt von einer Katze." Die Konstruktion richtet sich nach der Vorstellung, wonach eine Katze sieben Leben hat (im angloamerikanischen Sprachraum sind es gar neun).

Ergo teilte Köhlmeier die überwölbende Handlung des Romans konsequent in sieben Subgeschichten auf, die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten spielen, aber mittels einer Fülle von erzählerischen Kunstgriffen, über die ein versierter Autor wie er naturgemäß gebietet, zu einer Einheit verschmolzen werden: Vor- und Rückgriffe, Binnenerzählungen, kunstvoll verschlungene narrative Stränge und so fort.

Tod und Wiedergeburt

Matou ist zunächst der Hauskater des französischen Revolutionärs Camille Desmoulins. Köhlmeier, studierter Germanist: "Den kannte ich aus Dantons Tod von Georg Büchner, wo er eine der wenigen sympathischen Figuren ist." Nach seinem Tod und einer Zwischenzeit in einem fegefeuerartigen "Weggemachten" feiert Matou sodann Wiedergeburt zur Zeit der deutschen Romantik in Berlin.

Sein drittes Leben spielt auf der griechischen Katzeninsel Hydra, Leben Nummer vier im Kongo unter der brutalen belgischen Kolonialherrschaft, Leben fünf im Prag von Franz Kafka. Seine sechste Existenz bringt Matou gemeinsam mit einem berühmten, hochexzentrischen Katzenbesitzer in den 1960ern und 1970ern in New York City zu. Sein letztes, siebentes Leben, aus dessen Perspektive er rückblickend seine vorangegangenen Leben resümiert, führt uns schließlich in die geografisch vertraute Wiener Vorstadtumgebung von Grinzing.

Diese Struktur kommt den Leserinnen und Lesern insofern entgegen, als der potenziell furchterregend üppige Lesestoff vorsorglich vom Autor selbst in überschaubare Einheiten portioniert wurde. Aber auch für Köhlmeier war das Bauprinzip des Romans, das einen völlig organischen Eindruck vermittelt, ein Segen. "Ich habe Matou in einem Glücksrausch geschrieben. Noch niemals zuvor habe ich eine Struktur gefunden, die mir so viel Freiheiten gegeben hat."

Lange Listen

Von dieser Freiheit macht Köhlmeier spürbar animiert Gebrauch. Er lässt Matou über das Verhältnis der animalischen und der humanen Art oder über die Sprache der Tiere reflektieren oder integriert großzügig teils selbst (bzw. von seinem Schöpfer), teils von illustren Kollegen wie Schiller, Eichendorff etc. verfasste Gedichte in den Erzählfluss.

Er greift Anregungen aus der Weltliteratur auf, eine Szene aus Tom Sawyer etwa, in der Indianer Joe und Muff Potter auf einem Friedhof illegal eine Leiche als Seziermaterial für den Arzt Dr. Robinson ausgraben.

Motive daraus kehren in einer erschreckenden Story in Deutschland wieder, wo eine Horde entfesselter Medizinstudenten beim Sezieren mit dem Leichnam einer schönen jungen Frau respektlos Allotria treibt. "Das ist eine wilde Geschichte", meint Köhlmeier, "aber ich finde die Passagen im Kongo am ärgsten."

Der Afrika-Teil des Buches, in dem sich Matou zeitweilig in eine quasi-mythische Figur verwandelt, wird mit einem fast siebzigstrophigen Gedicht eingeleitet. Ein anderes wiederkehrendes Element außer den Gedichten sind lange Listen von literarischen oder Sachbüchern, auf deren Lektüre der wissbegierige Kater scharf ist.

Köhlmeier freut sich darüber, dass mir als eingeschworenem Listenliebhaber diese Passagen eine besondere Lesefreude bereitet haben: "Es ist ungewöhnlich, aber ich wollte das unbedingt im Roman drin haben."

Monsieur Katerchen

Ungeachtet aller Freiheit gab es etliche heikle Konstruktionsentscheidungen, denen sich Michael Köhlmeier zu stellen hatte. So ist Matou natürlich nicht das erste Tier und nicht der erste Kater, der sich in einem Roman zu Wort meldet, und die Assoziation zu den Lebensansichten des Katers Murr, in dem der extravagante deutsche Romantiker E. T. A. Hoffmann 1819/1821 ins Katzenfell schlüpfte, lag besonders nahe. Köhlmeier hat diese Vorgabe elegant bewältigt: "Ich lasse Hoffmann höchstpersönlich als Besitzer von Matou auftreten, der so zum Vorbild von Kater Murr wird."

Wie ist Köhlmeier eigentlich auf den ungewöhnlichen Namen des Katers gekommen? "Zunächst wollte ich ihn Monsieur Katerchen nennen, aber der Name hat nicht gepasst." So entschied er sich für "Matou", einen familiären französischen Ausdruck für einen Kater. Bei der sprachlichen Ausgestaltung von Matous erster Inkarnation gingen Köhlmeier die befreundeten Übersetzer Elisabeth Edl und Wolfgang Matz zur Hand und sorgten für
die passenden französischen Einsprengsel in Matous Redefluss.

Solcherart komplettiert, stand Matous weiterer Reise durch Zeiten und Kontinente nichts mehr im Wege. Demnächst kann er die Reise gemeinsam mit seinen Leserinnen und Lesern fortsetzen. In diesem Sinn: Bon voyage und Miau. (Christoph Winder, ALBUM, 18.8.2021)