Sie liegt weich, auf ein Federkissen gebettet, und wurde mit wertvollen Pelzen und Accessoires ausgestattet, darunter zwei imposante Schwerter, eine Sichel und ein Messer: Die Person, die vor rund 1.000 Jahren im heutigen Hattula, Südfinnland, bestattet wurde, hatte offensichtlich ein hohes Ansehen. Die frühmittelalterliche Bestattung gab der Archäologie allerdings ein Rätsel auf: Seit der Entdeckung bei Bauarbeiten im Jahre 1968 fragten sich Forschende zumeist, ob es sich dabei um eine Frau oder einen Mann – oder sogar eine Doppelbestattung – handelte.

Die künstlerische Rekonstruktion zeigt, mit welchen Artefakten und Kleidungsstücken die verstorbene Person ausgestattet war.
Bild: Veronika Paschenko

Aufgrund der erneuerten Datenlage wird das Grab von einem Forschungsteam jetzt ganz anders interpretiert: Es könnte sich bei dem Verstorbenen aus dem 11. bis 12. Jahrhundert um einen nichtbinären Menschen handeln, der von seinen körperlichen Voraussetzungen, seinem Kleidungsstil und seinen gesellschaftlichen Aufgaben her nicht den typischen Geschlechtervorstellungen für Frauen oder Männer entsprach. "Der allgemeine Kontext des Grabes weist darauf hin, dass es sich um eine angesehene Person handelte, deren Geschlechtsidentität nicht-binär gewesen sein könnte", schreibt das Team im Fachblatt "European Journal of Archaeology".

Weder Wikingerin, noch zu zweit

Welche Hinweise haben die deutsch-finnische Forschungsgruppe zu dieser Hypothese geführt? Dabei hilft zunächst der Blick auf die bisherigen Analysen des Grabs an der frühmittelalterlichen Fundstätte Suontaka Vesitorninmäki. Es enthielt nämlich drei Broschen und Wollkleidung, die von Fachleuten als für damalige Verhältnisse "typisch weibliche Tracht" verstanden wurden. Gleichzeitig lagen zwei Schwerter darin, eines ohne (erhaltenes) Schwertheft an der linken Seite des Körpers, ein anderes wurde erst später entweder in oder auf das Grab gelegt. Waffen, die eher Männern zugesprochen wurden.

Das in Finnland berühmte Schwert von Suontaka dürfte der neuen Studie zufolge erst eine Weile nach der Bestattung ins Grab gelangt sein.
Foto: The Finnish Heritage Agency

Diese Anordnung führte zunächst zu zwei verschiedenen Annahmen. Manche vermuteten, dass hier zwei Menschen beerdigt wurden – ein Mann und eine Frau. Jedoch fanden sich in dem Grab keine Überreste eines zweiten Menschen. Andere sahen in der Bestattung den Beweis dafür, dass es in dieser Zeit und Gesellschaft auch Kriegerinnen gab und Frauen mitunter starke Leitfiguren waren. Immerhin gibt es aus der gleichen Epoche neben entsprechenden historischen Quellen selten, aber doch Bestattungen von weiblichen Wikingern mit Waffen.

Ungewöhnliche Geschlechtschromosomen

Mit DNA-Analysen wollten Forschende endlich exaktere Aussagen treffen. Dafür wurden den Oberschenkelknochen Proben entnommen und an das Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena geschickt. Die Analyse gestaltete sich als Herausforderung, da die Probe eher klein war: Ein Teil des Genoms musste rekonstruiert werden. Nichtsdestotrotz zeigte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass die menschlichen Überreste eine eher ungewöhnliche Konstellation an Geschlechtschromosomen haben, nämlich XXY.

Die meisten Frauen haben zwei X-Chromosomen, die meisten Männer ein X- sowie ein Y-Chromosom. Dies wird im sogenannten Karyotyp zusammengefasst, der die Anzahl und Art der Chromosomen eines Individuums beschreibt. Der Typ XXY wird in der Medizin als "Klinefelter-Syndrom" bezeichnet (ausgesprochen wie "Kleinfelter"), auch weitere zusätzliche X- oder Y-Chromosomen können vorkommen. Davon betroffen ist durchschnittlich ungefähr eine von 1.000 Personen, in der Regel wachsen sie mit männlicher Geschlechtsidentität auf und merken auch heute noch relativ selten – in zehn bis 15 Prozent der Fälle –, dass sie überhaupt zusätzliche Geschlechtschromosomen haben.

Dies liegt daran, dass die Anzeichen subtil sein können. In vielen Fällen wird die genetische Konstellation erst bei einem unerfüllten Kinderwunsch festgestellt, weil Betroffene auf natürliche Weise keinen Nachwuchs zeugen können. Die Hoden sind klein, teils auch der Penis; der Testosteronspiegel ist oft niedrig. Manchmal geht der Typus mit einer Behinderung einher, etwa Sprach- und Lernschwierigkeiten. Und in manchen Fällen entwickelt sich die Brust typisch weiblich.

Privilegierte soziale Stellung

Das archäologische Forschungsteam setzte im finnischen Fall eine neue Methode ein, um anhand der verfügbaren genetischen Daten verschiedene Wahrscheinlichkeiten zu berechnen: für einen XXY-Karyotyp, die üblichen Typen XX und XY sowie eine kontaminierte Probe mit Material von zwei (oder mehr) XX- und XY-Genomen. Den Ergebnissen zufolge ist es mit 99,75 Prozent sehr wahrscheinlich, dass das Individuum die Chromosomenkombination XXY hatte.

Wenn nun bei der verstorbenen Person während ihrer Lebenszeit Klinefelter-Anzeichen bemerkbar waren, könnte die Person "in der frühmittelalterlichen Gemeinschaft nicht als strikt weiblich oder männlich angesehen worden sein", sagt Ulla Moilanen, Erstautorin der Studie und Archäologin an der Universität Turku in Finnland. "Die reichhaltige Sammlung an Gegenständen, die in dem Grab beigesetzt wurden, beweist, dass die Person nicht nur akzeptiert, sondern auch geschätzt und respektiert wurde."

Womöglich hing diese Akzeptanz auch damit zusammen, dass das Individuum privilegiert war, also beispielsweise aus einer wohlhabenden Familie stammte oder eine bestimmte gesicherte Position in der Gemeinschaft innehatte, etwa als Schamane, vermutet die Forschungsgruppe. In Schweden wurde bereits früher ein Grab mit uneindeutigen Beigaben – femininen Kleidern, Schmuck und Waffen – entdeckt, das aus der gleichen Zeit stammt und einem Mann zugeordnet wurde, schreibt der "Economist".

Plausible Ergebnisse

Auch andere Expertinnen und Experten halten die Studienergebnisse laut einem Bericht auf der Plattform "Live Science" für plausibel, etwa der Paläogenetiker Peter Heintzman von der Arktischen Universität Norwegen in Tromsø: "Das Team hatte nur eine winzige Menge an Daten zur Verfügung, zeigte aber auf überzeugende Weise, dass das Individuum wahrscheinlich einen XXY-Karyotyp hatte."

Bisher hat das Paper bereits für Unverständnis gesorgt, unter anderem aufgrund der Verwendung des Wortes "non-binary", wie die Erstautorin Moilanen auch auf Twitter verdeutlicht. "Ich weiß, dass sich einige Leute sehr über diesen Begriff aufgeregt haben, aber wir sind der Ansicht, dass dies ein recht neutraler Begriff ist, um diese Person zu beschreiben", sagt sie.

In diesem Thread verdeutlicht die Erstautorin einige Missverständnisse, was die Reaktionen auf die Studie betrifft.

So heiße es in der Studie etwa nicht, dass der Mensch ein Hermaphrodit, homosexuell oder intersexuell war. Zwar können XXY-Individuen in manchen Fällen intersexuell sein, häufiger sind sie aber männlich, schreibt die Archäologin. Außerdem haben die Forschenden diesen Begriff vermieden, weil er meist in Bezug auf uneindeutige Genitalien verwendet wird und dies im Rahmen der Studie nicht zu klären war.

Begriffsproblematik

Klarerweise ist es immer schwierig, hier und heute verwendete Begriffe wie "nicht-binär" auf frühere Epochen anzuwenden. Dies soll auch nicht bedeuten, dass Menschen damals die gleiche Auffassung von nichtbinärem Geschlecht hatten, wie es beispielsweise heute bei Personen in verschiedenen Kulturen, die sich weder als Frau, noch als Mann sehen, der Fall ist. "Diese Person sah höchstwahrscheinlich wie ein Mann aus, war aber weiblich gekleidet, und wir wissen nicht, wie sie sich selbst fühlte oder identifizierte", sagt Moilanen der "Washington Post".

Umgekehrt ist es uns aber auch kaum möglich, mit einem anderen als dem unsrigen Vokabular über frühere Zeiten zu sprechen, wenn wir für heutige Verhältnisse verständlich sein wollen: Das Problem stellt sich bei jeder Form der Übersetzung oder Übertragung. Letztendlich blicken wir auch mit Kategorien wie männlich und weiblich oder arm und reich auf die Vergangenheit zurück. Laut Moilanen könne man daher auch die Vorgehensweise infrage stellen, dass Artefakte einem Geschlecht zugewiesen werden. (Julia Sica, 16.8.2021)