Die radikalislamischen Taliban haben nach Herat (Bild) auch Kandahar eingenommen.

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In Afghanistan bricht gerade das Leben vieler Menschen zusammen – und eine zwanzig Jahre dauernde Illusion. Sie war jedoch, wie man mehr und mehr begreift, nicht nur einfach auf falschen Annahmen – viele nennen es Naivität – aufgebaut, sondern auf einer bewussten Desinformationsstrategie mehrerer US-Regierungen. Wer in der Washington Post die Vorschau auf das in Kürze erscheinende Buch Afghanistan Papers liest, kommt nicht umhin, es so zu nennen. Die Kontinuität, mit der die Präsidenten George W. Bush und nach ihm Barack Obama die Öffentlichkeit über die Schwierigkeiten in Afghanistan in die Irre geführt haben, ist erschreckend.

Als ab 2005 die ersten "What Went Wrong"-Analysen zur Lage im unter Bush 2003 ebenfalls eroberten Irak erstellt wurden, wurde in Afghanistan – wohl auch gerade weil der Irak ein Desaster war – kräftig schöngefärbt. Die Geschicke des Irak und Afghanistans hängen enger zusammen, als man glaubt. Die im Irak eingesetzten US-Truppen, die ab 2006 mühsam das zerfallende Land zusammenhielten, fehlten in Afghanistan, wo die Taliban soeben ihre lange Rückkehr antraten. Nicht nur ihre Stärke, auch die Schwäche der afghanischen Armee und der Regierung in Kabul wurden systematisch verharmlost. Die unter Obama 2014 zumindest nach außen – nicht in Afghanistan selbst – groß zelebrierte Einstellung der Kampfeinsätze der US-Truppen, die fortan nur mehr die Afghanen unterstützen sollten, war mehr oder weniger ein Etikettenschwindel.

Trumps "Friedensvertrag"

Und Donald Trumps "Friedensvertrag" mit den Taliban – der eigentlich dazu gedacht war, den US-Truppen den Abzug noch in seiner Amtszeit zu ermöglichen – war eine einzige Farce. Wenn Joe Biden jetzt die Afghanistan-Blase platzen lässt, werden ihm die einen Zynismus und Schlimmeres vorwerfen. Andere werden die These von der völligen Sinnlosigkeit dieses Krieges bestätigt sehen. Die Frage nach der Moral müssen sich allerdings auch alle anderen Staaten stellen, die in Afghanistan engagiert waren.

Auf der Strecke bleiben jene Afghanen und Afghaninnen, die an eine andere Zukunft geglaubt haben. Auch hier ist jedoch mit der Illusion aufzuräumen, die Taliban wären auf einem rein militärischen Eroberungszug. An vielen Orten ist es eher eine Übergabe: Große und kleine Ortskaiser, Paschtunen (wie es die Taliban sind) und Nicht-Paschtunen spielen mit, sei es aus Opportunismus, sei es aus Angst. Den psychologischen Effekt, den der fast überstürzt wirkende Abzug der USA – auch wenn Biden in Wahrheit Trumps Zeitplan um vier Monate nach hinten verschoben hat – und damit der Nato insgesamt hervorruft, sollte man nicht unterschätzen.

Mögliche Evakuierungen

Dass die USA und andere nun Truppen für mögliche Evakuierungen nach Kabul schicken, wird die Panik noch verstärken – wobei diese Vorbereitungen angesichts der Lage natürlich alternativlos sind. Vor kurzem entworfene Worstcase-Szenarien sahen eine nominell existierende afghanische Regierung in Kabul, inmitten eines von Taliban beherrschten Landes. Vielleicht stellt sich sogar das noch als Illusion heraus. (Gudrun Harrer, 13.8.2021)