Steffen Baumgart leitet aktuell die Übungen beim 1. FC Köln. Als Spieler bestritt er 424 Erst- und Zweitligaspiele.

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Inhalte des ballesterer #163 (September 2021) – Seit 13. August im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk

SCHWERPUNKT: OSTDEUTSCHLAND

BEI WINDSTÄRKE ZEHN
Der FC Hansa Rostock war letzter Meister der DDR

STADT MIT FÜNF TÜRMEN
Die Fahrt der Halle-Fans nach Moskau vor 30 Jahren

ZWEI GEKREUZTE HÄMMER
Geschichten aus dem Auer Schacht

Außerdem im neuen ballesterer:

GETEILTE STADT
Ein Besuch bei Velez Mostar

LEUCHTENDER STERN
Darko Pancev im Interview

LA SERENISSIMA
Venezia spielt in der Serie A

ERSTLIGIST IM ANGEBOT
Die US Salernitana und Claudio Lotito

AUFBRUCH UND RÜCKBLICK
Union Kleinmünchen und Blau-Weiß Linz

AUFSTIEG UND AMBITIONEN
Die Vienna will die Bundesliga aufmischen

HERZENSKLUB ADMIRA
Dominik Starkl im Interview

ZEIT ZU HANDELN
Gaby Papenburg über "Fußball kann mehr"

EUROPACUP FÜR LIEBHABER
Die Fenix Trophy der Amateurklubs

GROUNDHOPPING
Reisen nach Deutschland, Finnland, Polen und San Marino

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Steffen Baumgart hat die deutsche Wiedervereinigung als Spieler und Polizist erlebt. Kurz darauf stand er vor dem persönlichen Neustart, über die norddeutsche Provinz schaffte er es schließlich mit Hansa Rostock in die Bundesliga. Als Baumgart 2019 als Trainer mit dem SC Paderborn in die Bundesliga aufgestiegen war, meldete sich seine Vergangenheit zurück. Ein Hansa-Fan war nach Paderborn gereist, um dem gebürtigen Rostocker zu gratulieren. Am Rande der Aufstiegsfeier fragte ihn der Fan: "Und was ist mit Hansa?" Baumgart antwortete: "Ich komme noch irgendwann." Im ballesterer-Interview macht er keinen Hehl daraus, dass er dem DDR-Fußball und seinem Heimatverein viel zu verdanken hat. Ein Nostalgiker ist er dennoch nicht.

ballesterer: Sie haben einmal gesagt, dass Sie gern in der DDR gelebt haben. Was hat Ihnen daran gefallen?

Steffen Baumgart: Ich habe eine sehr schöne und sichere Kindheit gehabt. Mir hat es an nichts gefehlt. Ich habe nicht das Gefühl gehabt, eingesperrt zu sein.

ballesterer: Welche Rolle hat der Fußball in Ihrem Leben gespielt?

Baumgart: Meine ganze Jugend hat sich um Fußball gedreht. Mit acht Jahren habe ich bei Dynamo Rostock-Mitte angefangen. Nach der Schule habe ich vier- bis fünfmal die Woche trainiert, 1988 bin ich zum Zweitligisten Dynamo Schwerin gewechselt, weil ich dort eine Lehre begonnen habe. Der Klub war der Volkspolizei untergeordnet. Deshalb bin ich automatisch Polizist geworden.

ballesterer: Als Bereitschaftspolizist waren Sie beim entscheidenden Oberligaspiel zwischen Hansa Rostock und Dynamo Dresden im Mai 1991 eingesetzt.

Baumgart: Das war eine sehr wilde Zeit, sie war für uns Polizisten nicht einfach. Ich habe schnell erkannt, dass das nichts für mich ist. Schließlich wollte ich im Fußball weiterkommen.

ballesterer: Sind Sie deshalb als Amateurspieler nach Aurich in Ostfriesland gegangen?

Baumgart: Ich habe in Schwerin Instandhaltungsmechaniker gelernt, das war ein Schlosserberuf, den es so nur in der DDR gegeben hat. Nach der Wende hat er nicht mehr existiert. In Aurich habe ich eine Umschulung zum KFZ-Mechaniker gemacht, gleichzeitig weiter Fußball gespielt und so etwas dazuverdient.

ballesterer: Was haben Sie sich damals vom Westen erhofft?

Baumgart: Das war ein Abenteuer. Keiner hat gewusst, was ihn erwartet.

ballesterer: Sie waren nicht der einzige Neuzugang aus den neuen Bundesländern.

Baumgart: Wir waren elf Spieler, zum Teil aus der ersten Liga. Das war nicht nur in Aurich so. Viele sind aus der DDR in den Westen gegangen, um eine Ausbildung zu machen.

ballesterer: Wie sind Sie aufgenommen worden?

Baumgart: Ich war damals gerade 19 Jahre alt. Wir haben dort einen familiären Anschluss gehabt, man hat sich um uns bemüht. Viele von denen, die mit mir die Lehre im Osten gemacht haben, sind ja relativ schnell arbeitslos geworden, weil es ihre Betriebe plötzlich nicht mehr gegeben hat. Die haben schon eine Zeit lang gebraucht, um anzukommen. Bei mir ist das etwas schneller gegangen.

ballesterer: Würden Sie sich im Nachhinein als Wendegewinner bezeichnen?

Baumgart: Ja, auf jeden Fall bin ich ein Wendegewinner. Aber das habe ich schon damals gesagt. Ich habe zwar sehr viel Respekt davor gehabt, was auf uns zukommt, war mir aber auch sicher, dass ich mit dem Fußball viel erreichen kann. Weil wir im Osten sehr gefördert worden sind. Als Otto Normalverbraucher wäre ich wohl nicht nach Aurich gegangen, hätte nicht eine Wohnung, eine Lehrstelle und ein Auto bekommen. Man hätte sich nicht so um mich gekümmert. Das hat mir alles der Fußball gebracht. Dass das dann in der Bundesliga endet und ich heute Trainer bin, war nicht abzusehen.

ballesterer: Dabei wollten Sie schon als Kind Trainer werden.

Baumgart: Ich habe schon früh damit geliebäugelt. Mit 16, 17 Jahren habe ich meinen ersten Trainerschein gemacht. Als Profi bei Hansa Rostock habe ich einmal die Woche bei der C-Jugend mittrainiert. Nicht weil ich sofort Trainer sein wollte, sondern weil es mir Spaß gemacht hat.

ballesterer: Als Sie 1994 zu Hansa Rostock gekommen sind, sollen Sie zu Ihrem Vater gesagt haben: "Jetzt noch ein Bundesliga-Spiel, dann kann ich Trainer werden." Wie war das gemeint?

Baumgart: Die Bedingungen waren damals anders als heute. Mit einem Bundesliga-Einsatz war es einfacher, in die Fußballlehrer-Ausbildung hineinzukommen – zumindest war das mein Gefühl.

ballesterer: Als Trainer lassen Sie offensiv spielen, auf direktem Weg zum Tor. Nun ist der Weg im Leben ja nicht immer gerade.

Baumgart: Gerade bedeutet ja nicht, dass man immer oben ist. Es geht darum, seinen Weg zu gehen. Ich habe mit 17 in der zweiten Liga der DDR gespielt, mit 18 bin ich im FDGB-Pokalfinale gegen Dynamo Dresden gestanden. Das ist schon nicht gewöhnlich als junger Spieler. Mit der Wende war mein Weg aber erst einmal abgeschnitten. Dann bin ich nach Aurich gegangen, da stellte sich dann die Frage: Höre ich auf, oder versuche ich es noch einmal? So bin ich als Vertragsamateur zu Hansa gekommen, ein Vierteljahr später war ich Profi. Das war nicht abzusehen, aber ich bin drangeblieben. Man muss es einfach probieren.

ballesterer: Auch als Trainer?

Baumgart: Ja. Warum bin ich nach Paderborn gegangen, zu einem Zeitpunkt, als der Verein ganz unten gestanden ist? Weil ich gesagt habe, ich probiere es. Und jetzt sehen wir ja, was herausgekommen ist. Ich denke schon, dass man im Leben einen geraden Weg gehen kann. Ich bin ihn gegangen. Das bedeutet aber nicht, dass man nur oben oder unten ist.

ballesterer: Hatten Sie das Ziel, Bundesliga-Trainer zu werden?

Baumgart: Nein, das ist auch schwer. Bei allen, die erzählen, sie wollen irgendwann einmal Bundesliga-Trainer werden, denke ich mir: "Ja, macht mal." Denn dazu gehört ein bisschen mehr als nur theoretisches Wissen. Wenn man sich Ziele setzt, müssen die auch realistisch sein. Für mich war realistisch, dass ich Trainer werde. Und mir war klar, dass der Weg auch nach ganz oben gehen kann. Aber das war nicht geplant. Das funktioniert auch nicht.

ballesterer: Von 56 Trainern im deutschen Profifußball stammt nur ein gutes halbes Dutzend aus der ehemaligen DDR. Hans Meyer hat einmal der "Zeit" gesagt: "Es wird kein Präsidium auf den Gedanken kommen, im Osten nach einem Trainer zu suchen". Und Ihr Rostocker Kollege Jens Härtel hat ergänzt: "Als ostdeutscher Trainer wird dir keiner eine Stelle anbieten, da musst du schon selbst hochkommen."

Baumgart: Genau, so wie ich.

ballesterer: Warum sind ostdeutsche Trainer so unterrepräsentiert?

Baumgart: Das ist auch eine prozentuale Frage. Im Westen leben viel mehr Menschen. Aber es ist schon so, wie Hans Meyer gesagt hat.

ballesterer: Woran liegt das?

Baumgart: Weil der Osten im Fußball unterrepräsentiert ist. Ostdeutsche Vereine haben eine viel geringere Präsenz als zum Beispiel Nürnberg und Hannover, um nicht nur Erstligisten zu nennen. Wenn ich dort arbeite, werde ich ganz anders wahrgenommen, als wenn ich in Erfurt oder Chemnitz spiele. Allein das ist schon ausschlaggebend. Ich bin in Paderborn an den Job gekommen, weil kaum jemand diese Aufgabe angehen wollte. Hans Meyer hat den Umweg über die Niederlande gehen und sich dort beweisen müssen, bevor er zu Gladbach gekommen ist, obwohl er einer der am besten ausgebildeten Trainer war, die wir im Osten hatten. Ede Geyer hätte nie einer im Westen als Trainer genommen. Der hat mit Energie Cottbus in die Bundesliga aufsteigen müssen. Und mich hätte auch keiner genommen, wenn ich nicht diesen Weg mit Paderborn gegangen wäre.

ballesterer: Gibt es eine Ostmentalität?

Baumgart: Das sagen meist die, die mit dem Osten nichts zu tun haben. Im Westen dürfen Sie nicht einmal einen Düsseldorfer mit einem Kölner gleichsetzen oder einen Franken mit einem Bayern. Und im Osten sind wir alles Ossis? Wir haben auch unsere Eigenheiten und regionalen Unterschiede. Die einen sind halt eher am Berg zu Hause, die anderen mehr an der Küste. Im Alltagsleben gibt es zwischen beiden Teilen Deutschlands immer noch Unterschiede.

ballesterer: Wie lassen sich diese überwinden?

Baumgart: Das braucht Zeit, das wird sich über Generationen entwickeln. Meine Kinder wachsen mit diesem Ost-West-Vergleich nur noch auf, weil darüber gesprochen wird.

ballesterer: Wie sieht es heute im Ostfußball aus? Der 1. FC Union spielt seit zwei Jahren in der ersten, Aue seit sechs Jahren in der zweiten Liga. Dresden und Rostock rücken nun nach. Hat der Osten eine Chance, zum Westen aufzuschließen, oder bleibt er abgehängt?

Baumgart: Union Berlin hat bewiesen, dass man sich nicht abhängen lassen muss. Ich habe 2002 bis 2004 dort gespielt. Ein Jahr später sind sie in die Oberliga abgestiegen. Damals ist schon darüber gesprochen worden, dass Union in zehn Jahren in der Bundesliga sein wird. Da habe ich mir gedacht: "Okay, sehr ambitioniert." Aber weil sie drangeblieben sind und professionell gearbeitet haben, sind sie diesen Weg gegangen.

ballesterer: Warum waren nach der Wende kleinere Ostvereine wie Union, Rostock, Cottbus und Aue erfolgreich und nicht die vormals großen Klubs aus Berlin, Magdeburg, Leipzig und Jena?

Baumgart: Weil sie einfach nicht gut gearbeitet haben. Weil sie geglaubt haben, über Tradition geht es. Und weil sie dabei vergessen haben, an den wichtigen Sachen zu arbeiten.

ballesterer: Die da wären?

Steffen Baumgart: Du musst eine Infrastruktur schaffen, du brauchst kluge Lösungen, du brauchst Leute, die den Job verstehen. Das ist nicht nur im Osten so, sondern überall. Bei vielen Klubs wird zu viel von Tradition erzählt, aber die meisten, die davon reden, haben diese Tradition ja gar nicht erlebt, sondern nur deren Eltern und Großeltern.

ballesterer: Wie sehen Sie die Entwicklung bei Hansa Rostock?

Baumgart: Hansa hat sich nach der Wende gut entwickelt, bis man sich irgendwann selbst im Weg gestanden ist. Jetzt ist man wieder da, und ich bin gespannt, ob sie so weitermachen. Aber du hast nur eine Chance, etwas zu erreichen, wenn du kontinuierlich arbeitest, um immer besser zu werden.

ballesterer: Wie stehen Sie heute zu Hansa Rostock?

Baumgart: Das wird immer ein ganz wichtiger Bestandteil meiner Fußballerlaufbahn sein.

ballesterer: Obwohl Sie dort dreimal hinausgeflogen sind?

Baumgart: Ja, aber das ist im Fußball so. Man geht ja nicht mit einem Verein mit, weil es nur gut läuft, sondern weil er zu einem gehört. Sicher habe ich mich damals geärgert. Aber das ist mein Heimatverein, dem ich viel zu verdanken habe. Dort bin ich im Bundesliga-Fußball groß geworden. Bei Union ist später etwas Besonderes gewachsen, bei Paderborn auch. Das ist außergewöhnlich. Aber vielleicht gelingt mir so etwas mit einem anderen Verein auch noch einmal.

ballesterer: Mit Hansa?

Baumgart: Vielleicht. Wenn sich irgendwann einmal zum richtigen Zeitpunkt die Situation ergibt, würde es mich reizen. Wer weiß, was kommt. Aber jetzt mache ich mir erst einmal Gedanken über meinen neuen Arbeitgeber. (Jan Monhaupt, 16.8.2021)