Wieviele bzw. ob Afghanen sich in Schubhaft befinden, ist derzeit unklar. Wenn sie nicht abgeschoben werden können, dürften sie jedenfalls auch nicht in Haft sein.

Foto: elmar gubisch

Die Taliban nehmen in Afghanistan derzeit eine Stadt nach der anderen ein. Mehr als die Hälfte der Provinzhauptstädte ist bereits unter Kontrolle der Islamisten, sie stehen mittlerweile kurz vor der Hauptstadt Kabul. Viele europäische Länder, darunter etwa Deutschland und Dänemark, kündigten bereits an, Abschiebungen nach Afghanistan vorerst auszusetzen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Österreich in der Praxis derzeit einen anderen Weg gehen kann – auch, wenn man wollte. Das liegt sowohl an logistischen, aber auch rechtlichen Gründen.

"Ich finde es schon länger unverantwortlich, dorthin abzuschieben. Aber jetzt, angesichts der jüngsten Entwicklungen, ist das überhaupt keine Frage mehr. Wenn man jetzt nach Afghanistan abschiebt, verletzt man die Europäische Menschenrechtskonvention. Im Prinzip bei jeder Person", sagt Menschenrechtsexperte Manfred Nowak, der auch als UNO-Sonderberichterstatter über Folter tätig war, zum STANDARD. Eine tatsächliche Abschiebung wäre eine "Provokation." Denn man könne mit "an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass Österreich dann von Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt würde."

Harte Rhetorik

Zudem können Abschiebeflüge in Kabul derzeit nicht mehr landen. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass Österreich einen Flug chartert, ohne zuvor zu wissen, ob man überhaupt irgendwo landen kann. Vielleicht gibt es einen Flugplatz der Taliban, die sagen: Ja, wunderbar, wir nehmen sie in Empfang. Ich gehe schon davon aus, dass das Innenministerium professionell genug ist, um sich in puncto Landeerlaubnis davor zu erkundigen", sagt Nowak. Es sei auch vorstellbar, dass die afghanische Regierung auf unbestimmte Zeit hin sagt, dass sie bei Abschiebungen nicht kooperieren können.

Das Wort "Abschiebestopp" will Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) jedoch trotzdem nicht verwenden. "Ein genereller Abschiebestopp ist ein Pull Faktor für die illegale Migration und befeuert nur das rücksichtlose und zynische Geschäft der Schlepper und somit der organisierten Kriminalität", sagte Nehammer am Samstag. Zudem seien es fast ausschließlich junge Männer, die einen Asylantrag stellen, und als Innenminister sei er dafür verantwortlich, "den sozialen Frieden und den Wohlfahrtsstaat zu schützen."

Selbstorganisierte Flieger

Für Nowak ist das "eher Rhetorik, um zu zeigen: Wir lassen uns weder von der EU noch von Afghanistan irgendetwas vorschreiben." Der letzte Abschiebeflug hat im Juni stattgefunden. Im Schnitt würden alle zwei bis drei Monate derartige Abschiebungen durchgeführt. Dies sei ein "ganz normales Intervall", betonte man im Büro von Innenminister Nehammer. Der letzte geplante Abschiebeflug Anfang August sei von Afghanistan unter anderem mit Verweis auf die Covid-Bestimmungen abgelehnt worden. In einem Fall stoppte der EGMR jedoch die Abschiebung, der Aufschub gilt vorerst bis Ende August.

Offenbar plant das Innenministerium nun anstelle der internationalen Frontex-Abschiebeflüge (diese sind ebenfalls ausgesetzt) selbst nationale Charterflüge zu organisieren, wie das Ressort einen Bericht der Kleinen Zeitung bestätigte. Wer die Kosten dafür übernimmt, ist vorerst unklar. Das Innenministerium verwies zudem darauf, dass abseits der Abschiebeflüge weiterhin sogenannte "zwangsweise Außerlandesbringungen" von Afghanen in andere EU-Staaten nach der Dublin-Verordnung durchgeführt werden.

Würde das Innenministerium offiziell eingestehen, derzeit keine Abschiebungen nach Afghanistan durchführen zu können, hätte das auch Auswirkungen auf jene Afghanen, die derzeit noch auf ihre Abschiebung eben dorthin warten oder kurz davor stehen, in Schubhaft genommen zu werden.

Signale nach innen und außen

Schubhaft dient zur Durchsetzung einer Abschiebung und ist keine Strafhaft. Schubhaft ist rechtlich nur möglich, wenn auch die Vorbereitung und Durchführung einer Abschiebung möglich ist. Das heißt man muss die entsprechenden Vorkehrungen treffen können; etwa die Ausstellung von Heimreisezertifikaten. "Rechtlich ist eine Abschiebung nach Afghanistan derzeit meines Erachtens nicht möglich. Die logische Konsequenz daraus ist also, dass Afghanen derzeit nicht in Schubhaft genommen werden dürfen bzw. aus der Schubhaft entlassen werden sollten", sagt Nowak. Das betreffe sowohl jene, die derzeit in Schubhaft sind, als auch jene, die neu in Schubhaft kommen würden. Zudem gibt es eine Frist von sechs Monaten, länger dürfen Schubhäftlinge in der Regel nicht angehalten werden. Wieviele Afghanen sich derzeit in Schubhaft befinden, konnte das Innenministerium vorerst nicht beantworten.

Zusätzlich will das Innenministerium wohl auch ein Signal nach außen senden – Stichwort "Pull Faktor." Der Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung der Schlepperkriminalität, Gerald Tatzgern, sagte zur Presse, man habe bereits "erste Wahrnehmungen" darüber, dass Schlepper mit einer "Bleibegarantie" werben würden: "Jedes Land, das ankündigt, selbst straffällige Afghanen nicht mehr abzuschieben, spielt den Schleppern weiter in die Hände." Und immerhin sprach auch Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) vor etwa drei Wochen davon, dass es "keinen Abschiebestopp" nach Afghanistan geben dürfe.

Kanada will Flüchtlinge aufnehmen

Einen anderen Weg geht Kanada: Das Land will 20.000 Personen aus Afghanistan aufnehmen. Das Angebot richtet sich speziell an Frauen in Führungspositionen, Regierungsmitarbeiter, Journalisten und Menschenrechtler. Signale in diese Richtung waren seitens der österreichischen Regierung bisher nicht zu vernehmen. Der Sicherheitssprecher der Grünen, Georg Bürstmayr, twitterte allerdings, dass er sich bereits für eine Evakuierung von Menschen aus Afghanistan eingesetzt habe.

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) betonte hingegen, man wolle Hilfe vor Ort leisten. (Vanessa Gaigg, 14.8.2021)