Jacopo Larcher an der Schlüsselstelle der Route "Tribe". Wie oft er sie versucht hat, kann der Südtiroler nicht mehr sagen.

Foto: Paolo Sartori

Für ein paar Sekunden ist Jacopo Larchers Zeigefinger nutzlos. Der Südtiroler kann nur drei Finger seiner linken Hand in die kleine Einkerbung im Fels quetschen. Er spannt jeden Muskel an, reißt sich hoch – und endlich macht es patsch. Die Hand klatscht auf den Felsvorsprung, Larcher kann sich halten, zieht die rechte Hand nach. Und er schreit einen Schrei, in dem sechs Jahre Hoffnung, Frust und Wille stecken. Larcher hat die Schlüsselstelle der schwierigsten je gekletterten Route des Traditionellen Kletterns überwunden. Er weiß, dass er sie jetzt zu Ende klettern wird. Er weiß, dass er nach sechs Jahren das Projekt seines Lebens geschafft hat.

Im Klettern unterscheidet man zwischen Stilen: Im Freiklettern bieten in den Fels gebohrte Haken regelmäßige Sicherungen, im Bouldern klettert man nur bis zu Höhen, von denen man einigermaßen sicher abspringen kann. Free Solo findet ganz ohne Sicherung statt. Und dann gibt es "Trad", das Traditionelle Klettern.

"Als ich zum ersten Mal Trad probierte, habe ich realisiert, dass ich genau danach gesucht hatte", sagt Larcher. Klettert er eine solche Route, legt er sämtliche Sicherungen selbst – solche Klemmkeile sind naturgemäß weniger verlässlich als Bohrhaken. "Es wird dadurch viel fesselnder. Der Kopf ist viel wichtiger als die Kraft, die man hat." 2013 sieht Larcher in Cadarese die Route, die er am 22. März 2019 durchsteigen und dann "Tribe" taufen wird. Und er verliebt sich.

Zuhause im Granit

Mittlerweile ist Larcher 31 Jahre alt und hat ein Buch über sein Kletterleben geschrieben: Das Unmögliche ist etwas weiter oben. Es geht um seine schüchternen Anfänge, um Klettertrips ins sibirische Niemandsland und um seine Beziehung zu der herausragenden österreichischen Kletterin Babsi Zangerl. Und natürlich um Tribe. Über diese 25 vertikalen Meter im Granit des Piemont schreibt Larcher wie über einen Menschen. "Es entsteht eine Beziehung mit dem Stück Fels. Das Gebiet ist wie ein zweites Zuhause geworden", sagt Larcher dem STANDARD.

Jacopo Larcher, "Das Unmögliche ist etwas weiter oben". Übersetzt von Maria Anna Söllner. € 24,90 / 232 Seiten. Egoth-Verlag.
Foto: egoth Verlag

Der junge Mann fährt sechs Jahre lang regelmäßig nach Cadarese und versucht wieder und wieder diesen letzten schwierigen Zug, der ihn zum Verzweifeln bringt – ohne Erfolgsgarantie. "Ich habe bis zwei Wochen vor dem Durchstieg nicht gewusst, ob der Zug wirklich geht", sagt er.

Die Klettersaison in Cadarese dauert im Frühling und im Herbst je sechs Wochen. Im Sommer und im Winter trainiert Larcher an einer künstlichen Kletterwand den möglichst getreu nachgebauten Zug, um in Übung zu bleiben. Auf Expeditionen oder alpine Touren verzichtet er: "Um mein Sportkletterniveau nicht zu verlieren." Ja, er klettert andere Sachen, aber: "Man ist trotzdem sechs Jahre mit dem Kopf drin."

Ewigkeiten

Vor etwa sechs Jahren sagte Angela Merkel zum ersten Mal "Wir schaffen das!", Dominic Thiem holte gerade seine ersten Titel auf der ATP-Tour. Sechs Jahre können sehr lang sein. "Sicher gab es Zeiten, in denen ich gezweifelt habe, ob das Sinn macht", sagt Larcher. Ob er es bereut hätte, wenn die Route am Ende unmöglich gewesen wäre? "Ich glaube nicht. Wenn man viel Energie in etwas investiert, an das man fest glaubt, dann ist es egal, ob es am Ende funktioniert oder nicht. Ich habe wirklich viele gute Freunde kennengelernt. Aber es hätte sicher einen bitteren Nachgeschmack gehabt."

Der Schlüsselgriff.
Paolo Sartori

Warum machte es an diesem 22. März endlich patsch? Was war anders? "Nichts", sagt Larcher. "Mit jedem Versuch verstehst du besser, was du machen musst. Das sind Mikrosachen: auf welchen Millimeter Fels man steigt, ob man den kleinen Finger aufstellen muss. Ich bin mit zehn verschiedenen Paar Schuhen geklettert." Phasenweise versucht er den Zug gar nicht mehr, sondern hält nur so lange wie möglich die Griffe, um genau in diesen Muskeln stärker zu werden. Es hat sich ausgezahlt. "Das Schönste an einem Projekt ist nicht, wenn du es schaffst, sondern wenn du siehst, dass es möglich ist. Als ich den Zug endlich geschafft habe – das war sicher das Beste an der Erfahrung."

Schweigen

Gewöhnlich gibt der Erstbegeher einer Route einen Schwierigkeitsgrad. Larcher verzichtete darauf. "Mir war die Message wichtig, dass es etwas anderes gibt als den Schwierigkeitsgrad und Leistung. Ich finde, das hat man im Klettern verloren. Man redet immer nur über Schwierigkeitsgrade und nicht darüber, was man von einer Route gelernt hat und was man erlebt hat."

Die Wand.
Paolo Sartori

Das Erlebte, das war vieles. Geduld, Zusammenhalt, auch Ablenkung. "Manchmal muss man etwas anderes machen. Ich bin mit Kollegen klettern gegangen, habe ein Buch gelesen oder mir Kaffee gemacht. Sonst wird man komplett wahnsinnig, wenn man sechs Jahre über eine Stelle nachdenkt." Den Namen Tribe, auf Deutsch "Stamm", wählte Larcher zu Ehren der vielen beteiligten Menschen.

Wiederholt

Dass Tribe die schwierigste Trad-Route ist, ist auch ohne Bewertung klar. Larcher ist nicht nur in dieser Disziplin einer der weltbesten Kletterer. Wenn er sechs Jahre in eine Route investiert, muss sie enorm schwierig sein. Im Oktober 2020 gelang James Pearson die erste Wiederholung der Route, auch er verzichtete auf eine Bewertung. Er sagt: Weiß man, dass eine Route möglich ist, wird sie dadurch einfacher.

Schon auf der zweiten Seite seines Buchs schreibt Larcher, dass er seinen Lesern Durchhaltevermögen mitgeben will. Später betont er, dass man manchmal aufgeben muss. "Man hat ein Gefühl, ob etwas Sinn macht", sagt er. "Bei Tribe hatte ich wirklich keinen Auftrag. Normalerweise gebe ich dann auf. Aber ich habe das Gefühl gehabt, dass es irgendwie gehen kann, deswegen habe ich mich immer gewehrt." Bis es patsch gemacht hat. (Martin Schauhuber, 16.8.2021)

Das Video zu "Tribe".
The North Face