Bild nicht mehr verfügbar.

In immer mehr Städten wehte die Flagge der Taliban, hier in Ghazni im Südostern Afghanistans.

Foto: AP Photo/Gulabuddin Amiri

In den vergangenen Tagen übernahmen die Taliban die Kontrolle in einer afghanischen Stadt nach der anderen. Das ostafghanische Jalalabad war die vorletzte Großstadt, die die Taliban eingenommen haben – dann fehlte nur noch Kabul.

Foto: EPA/STRINGER

Bild nicht mehr verfügbar.

Afghanistans Präsident Ashraf Ghani soll bereits in Tadschikistan sein.

Foto: Reuters / AFGHAN PRESIDENTIAL PALACE

Bild nicht mehr verfügbar.

Taliban-Kämpfer nahmen den Präsidentenpalast ein.

Foto: AP

Die Taliban-Kämpfer standen noch vor den Toren der afghanischen Hauptstadt, da wurden in Kabul schon öffentliche Bilder von Frauen übermalt, wie der Chef des Nachrichtensenders Tolo News twitterte. Der Einmarsch der radikalislamistischen Gruppierung war nur noch Formsache. Am Nachmittag rückten sie schließlich vor – um Plünderungen zu vermeiden, wie ein Sprecher sagte. Denn die Soldaten und Sicherheitskräfte hatten sich zurückgezogen. Später zeigten Bilder des Senders Al Jazeera sie im Präsidentenpalast. Am Sonntagabend erklärte ein führender Repräsentant der Taliban per Videobotschaft den Sieg der radikal-islamischen Gruppe in Afghanistan.

"Der Krieg in Afghanistan ist vorbei", sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim gegenüber Al Jazeera. In Kürze werde feststehen, wie das Land künftig regiert werde. "Die Art der Herrschaft und die Regierungsform werden bald klar sein."

Kurz nachdem am Sonntagvormittag bekannt geworden war, dass die Taliban den Ring um die Hauptstadt geschlossen hatten, drangen erste Berichte über eine "friedliche Machtübergabe" an die Öffentlichkeit. Die Regierung in Kabul kapitulierte, obwohl sich Präsident Ashraf Ghani am Samstag noch in einer TV-Ansprache an die Öffentlichkeit gewandt hatte: Der Kampfgeist der Armee sei groß – dabei fielen die zuvor eroberten Städte nahezu kampflos. Korruption und Angst vor dem Terror ließen die Soldaten flüchten oder ihre Waffen den radikalen Islamisten übergeben.

Spekulationen über Premier

Der angekündigte Machtwechsel soll in der katarischen Hauptstadt Doha ausverhandelt werden. Dort fanden bereits die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung statt. Der Leiter des Rates für Nationale Versöhnung, Abdullah Abdullah, reiste dazu am Sonntag aus Kabul ab. Und noch vor dem Treffen gab es erste Spekulationen, wer eine Einheitsregierung mit den Taliban führen könnte.

Ganz oben auf der Liste steht der ehemalige Innenminister Ali Ahmad Jalali, wie die Nachrichtenagentur Reuters aus Diplomatenkreisen zitierte. Der 81-Jährige ist zwar in Afghanistan geboren, doch besitzt die US-amerikanische Staatsbürgerschaft und hält sich im Moment auch als Professor in den Staaten auf. Die Taliban stellten aber klar, dass sie keine Übergangsregierung dulden werden, sondern einen kompletten Machttransfer erwarten.

Ghani geflohen

Präsident Ghani hat das Land bereits verlassen, offenbar ist der Präsident zunächst nach Tadschikistan ausgereist. Laut Al Jazeera sind Ghani, seine Frau und Kinder, sein Kabinettschef und der nationale Sicherheitsberater dann in die Hauptstadt von Usbekistan, Tashkent weiter geflüchtet. Erst spät am Sonntag äußerte sich Ghani selbst via Facebook und gab an, das Land verlassen zu haben "um Blutvergießen zu verhindern". Ghani war bereits einmal, Ende der 1970er-Jahre, aus Afghanistan geflohen, weil seine Familie von den Kommunisten verfolgt wurde. Er nahm die US-Staatsbürgerschaft an und arbeitete in den 1990ern für die Weltbank. Schließlich wechselte Ghani in das Uno-Team für Afghanistan von Lakhdar Brahimi. 2002 wurde er afghanischer Finanzminister, im Dezember 2014 dann Präsident. Die Taliban stellten in den vergangenen Tagen immer wieder klar, dass sie nur einer Führung ohne Ghani zustimmen werden.

Dass die Taliban die afghanische Hauptstadt so schnell einnehmen konnten, hat auch internationale Akteure zu mehr Eile getrieben. US-Präsident Joe Biden schickte insgesamt 5.000 Soldatinnen und Soldaten, um die Botschaft binnen 72 Stunden räumen zu können. Noch am Sonntagabend (Ortszeit) hieß es vonseiten des US-Militärs, dass man die Evakuierung abgeschlossen habe und sich das gesamte Botschaftspersonal am Flughafen befinde.

Die deutsche Regierung ließ noch am Sonntag zwei Truppentransporter nach Kabul abheben, um die rund 100 Staatsangehörigen aus dem Land zu bringen – sie sollen zwischenzeitlich in Usbekistan in Sicherheit sein. In der Nacht auf Montag landeten nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur 40 Mitarbeiter der deutschen Botschaft mit einem US-Flugzeug in Doha im Golfemirat Katar. An Bord der Maschine waren auch vier Angehörige der Schweizer Vertretung in Afghanistan.

Auch Österreich ließ laut STANDARD-Informationen vier Staatsbürger mit einer internationalen Gruppe ausfliegen. Die Nato behält noch eine Präsenz im Land, um den Flughafen in Betrieb zu halten.

In der ersten Aussendung nach dem Fall Kabuls ließen die Taliban die Öffentlichkeit wissen, dass Spitäler und eben der Flughafen geöffnet bleiben. Ausländer, die das Land verlassen möchten, dürften dies tun. Alle anderen müssten sich bei den Taliban registrieren. Am Abend fielen Schüsse am Flughafen.

Starke Fluchtbewegungen

Auch die britische Regierung entsandte 600 Soldatinnen und Soldaten, um ihre Staatsangehörigen aus Afghanistan zu holen. Mit der Lage im Land wird sich diese Woche auch das Parlament befassen. Premier Boris Johnson lässt die Abgeordneten aus der Sommerpause kommen. Der Chef der Oppositionspartei Labour, Keir Starmer, will vor allem darüber sprechen, wie eine humanitäre Katastrophe verhindert werden kann. "Die Situation in Afghanistan ist schockierend und scheint sich stündlich zu verschlimmern", sagte Starmer der BBC.

Um auf die steigende Anzahl von Flüchtlingen aus Afghanistan reagieren zu können, hat das Nachbarland Iran bereits damit begonnen, Camps an der Grenze zu errichten. In drei Grenzprovinzen werden Übergangseinrichtungen aufgebaut.

Die EU-Kommission erhöhte den Druck auf die Mitgliedsstaaten, eine gemeinsame Migrationspolitik zu verfolgen. Vizepräsident Margaritis Schinas sagte zur italienischen La Stampa: "Die Krise in Afghanistan, aber nicht nur sie, macht es noch offensichtlicher, dass es Zeit ist, sich auf den neuen europäischen Migrationspakt zu einigen." In der kommenden Woche soll ein Sonderministerrat der EU-Außenminister zu Afghanistan stattfinden. Der UN-Sicherheitsrat will am Montag zu einer Sondersitzung zusammenkommen. (Bianca Blei, Noura Maan, 16.8.2021)