Boris Johnson, 2016 noch Außenminister, in Kabul.

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Auf Druck der Labour-Opposition hat die britische Regierung für Mittwoch eine Sondersitzung des Unterhauses zur Lage in Afghanistan anberaumt. Und offenbar gibt es im Kabinett des konservativen Premiers Boris Johnson Differenzen über die Haltung Großbritanniens, die dem Kurs von US-Präsident Joe Biden folgt, sich aber gleichzeitig von der Rückzugsentscheidung distanziert.

Innerparteiliche Kritiker feuern Richtung Downing Street: Dass auch die größte Militärmacht Europas ihre Truppen zurückgezogen habe, stelle "das schwerste Versagen britischer Außenpolitik" seit mehr als 60 Jahren dar, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Unterhaus, Tom Tugendhat. Und die Opposition nützt die Gelegenheit, der Regierung Vorhaltungen zu machen.

Fallschirmjäger in Marsch gesetzt

Verteidigungsminister Ben Wallace, wie Tugendhat ein Ex-Offizier der Armee, kämpfte am Montag mit den Tränen, als die Rede auf jene Afghanen kam, die der britischen Armee vor Ort als Fahrer und Dolmetscher beigestanden hatten. "Ich bin Soldat, die Situation ist traurig. Wir müssen unser Bestes geben, um die Leute da rauszuholen."

Alle Spekulation über eine britische Rückkehr an den Hindukusch zu einem späteren Zeitpunkt hat die Machtübernahme der Taliban zunichtegemacht. Ohnehin ist – ähnlich wie in den USA – auch in Großbritannien, das seit 2001 in Afghanistan 457 Tote und Tausende von Schwerverletzten zu beklagen hatte, der Appetit auf den Kampfeinsatz extrem begrenzt. Die Regierung konzentriert sich nun darauf sicherzustellen, dass das Land "nicht erneut zu einer Brutstätte islamistischen Terrorismus" verkommt, sagte Premier Johnson.

Wallace setzte Fallschirmjäger in Marsch, um die Evakuierung von rund 4000 britischen Staatsbürgern sicherzustellen. Zudem sollen bis zu 2000 Afghanen ausgeflogen werden, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten für Großbritannien tätig waren und als gefährdet gelten. Anders als sein US-Kollege war der britische Botschafter am Montag noch vor Ort am Flughafen von Kabul, um lebensnotwendige Visa auszustellen.

Wechselbad der Gefühle

Dies gilt auch für eine Reihe hochbegabter junger Leute, die übers Wochenende einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt waren. Zunächst hatte das Foreign Office den 35 Männern und Frauen mitgeteilt, sie könnten ihre äußerst prestigeträchtigen Chevening-Stipendien zum Studium an einer englischen Universität nicht antreten. Diese Entscheidung stelle erneut eine schlimme Beeinträchtigung des britischen Prestiges in der Region dar, kritisierte der frühere Vizepremier David Lidington auf Twitter.

"Tief enttäuscht" äußerte sich auch Ex-Entwicklungshilfeminister Rory Stewart. Der Protest hatte Erfolg, die Entscheidung wurde rasch korrigiert. Die beiden Tories fielen 2019 Johnsons Säuberung der Partei von allen Brexit-Kritikern zum Opfer. Besonders Stewarts Expertise fehlt den Konservativen. Dass sein Land, das sich als eine führende Militärmacht präsentiere, nicht einmal den Versuch gemacht hat, mit Nato-Verbündeten jenseits der USA eine dauerhafte Präsenz in Afghanistan sicherzustellen, hält Stewart für "wirklich merkwürdig".

Wie der frühere Minister kritisieren auch andere Kenner die Kürzung der Entwicklungshilfe für Afghanistan um mehr als die Hälfte. Europa und die USA müssten sich nach der Demütigung des Westens auf eine Flüchtlingswelle gefasst machen, wie man sie nach der kommunistischen Machtübernahme Vietnams 1975 erlebt habe. "Gemeinsam werden wir mehrere Millionen aufnehmen müssen", prophezeit Stewart. Das werde für die Brexiteers schwer zu verkraften sein, aber: "Das haben sie sich selbst eingebrockt." (Sebastian Borger aus London, 16.8.2021)