"Unter Wert geschlagen." So lautet in der Sportberichterstattung das Wording. "Unter Wert geschlagen" beschreibt, was Christoph Szalay und Roland Schwarz am Wochenende widerfuhr: Szalay (im Bild), einst nordischer Kombinierer und nunmehr Literatur- und Kunstakteur, und sein Kompagnon Roland Schwarz hatten ein feines Konzept zum Thema "Laufen als ästhetische Praxis" ausgeheckt, es "Endurance &" genannt – und vergangenes Wochenende zur ersten Ausgabe ihrer "Schnittstelle von Ausdauersport und kritischem Diskurs" ins Forum Stadtpark nach Graz geladen: "Was sie (die Schnittstelle, Anm.) trägt, ist die Begeisterung für die Bewegung – im Wasser, am Rad, auf den Straßen, den Bergen, den Trails und verschneiten Loipen – genauso wie die Hingabe an die Kunst und die kritische Reflexion."

Klingt "verkopft"? Mag sein – aber gerade das macht es ja spannend.

Foto: Clara Wildberger

Szalay und Schwarz hatten sich ein spannendes Programm überlegt: Die Wiener Literatin Angelika Reitzer schickte ein Video mit einem Text über (Un-)Ähnlichkeiten von Laufen und Schreiben und – von ihr postuliert – die Unterschiede männlicher und weiblicher Laufzugänge. Im Laufalltag ebenso wie in der Art, darüber zu erzählen.

Die nordenglische Lyrikerin und Trailläuferin Helen Mort steuerte einen filmischen Essay mit zwölf Einminutengedichten für einen – imaginären – Zwölf-Meilen-Lauf bei und plauderte danach ausführlich über Lyrik und Laufen.

Und zum Abschluss zeigte man Rickey Gates' USA-Durchquerung "Transamericana" während der Trump-Ära plus einen Videotalk mit dem Trail-Star.

Foto: Thomas Rottenberg

Wir durften auch "mitspielen": mit einem etwas euphemistisch "Urban Running Workshop" genannten Lauf durch Graz am Vormittag – und einem Vortrag danach, bei dem ich über meinen "impressionistischen" Zugang zu Städten und Landschaften als Abfolge sich abwechselnder Bilder erzählte.

Also über Bühnenbilder und Szenen, die sich laufend in einer ganz anderen Intensität, Abfolge und Direktheit erleben und wahrnehmen lassen als spazierend oder in – egal welchen – Verkehrsmitteln.

Foto: Clara Wildberger

Denn Blicke und Achsen – egal ob in der Stadt oder auf dem Land – erschließen, erklären und ergänzen sich laufend ganz anders. Weil der Läufer (oder die Läuferin) Stimmungen, Farben, Gerüche und Geräusche nicht nur viel näher erlebt als andere "Durchreisende", sondern auch die Unterschiede zwischen Stadtteilen, Vierteln oder manchmal schon Straßenseiten ganz unmittelbar erfährt.

Foto: Clara Wildberger

Dass "Endurance &" da ein paar spannende, weil "andere" Zugänge zum Themenkomplex Sport, Gesundheit und Ausdauer anbot, fand nicht nur ich. Das Grazer Kulturamt war davon ebenso angetan wie lokale und regionale Medien: In der "Kronen Zeitung" eine Viertelseite im Kulturteil zu bekommen, in der nicht einfach das Programm per "Copy-Paste" eingepflegt wird, sondern der Redakteur oder die Redakteurin tatsächlich etwas schreibt, ist nicht nix. Gerade in einem Sommer, in dem Kunst-, Kultur- und Sportevents endlich wieder stattfinden können – und die Stadt vor Leben vibriert: Da mit einem "Laufen ist mehr als einfach Rennen"-Event auch den Kopf anzusprechen sollte also funktionieren. Eigentlich.

Foto: Thomas Rottenberg

Nur: Wo "eigentlich" steht, passiert das Gegenteil. Und so fand Samstagnachmittag gerade eine Handvoll am Lauf-Kunst-Diskurs Interessierter den Weg in jenen sommerlichen Backofen, der im Grazer Stadtplan als "Forum Stadtpark" eingezeichnet ist.

Klar taten mir die Veranstalter leid: "Unter Wert geschlagen". Weit unter Wert.

Aber wenn ich ganz ehrlich bin, hätte ich mich an einem nicht nur brüllheißen, sondern gewitterschwül-dampfenden Plus-30-Grad-Nachmittag Mitte August "ungebucht" wohl auch nicht hier eingefunden.

Trotz aller Neugierde und Freude daran, die "beaten tracks" zu verlassen.

Foto: Thomas Rottenberg

Doch dann hätten wir uns ohne diesen Auftrag wohl auch nicht am nicht minder drückenden Vormittag auf eine Hitzetour durch Graz gemacht. Ich bin zwar kein "Local", kenne die Stadt aber doch halbwegs – auch und vor allem als "Laufstadt": Gerade ihre – relative – Kleinheit und Dichte, gepaart mit der historischen, kulturellen und architektonischen Vielschichtigkeit der steirischen Landeshauptstadt, macht es leicht, schon auf einer kurzen Runde unter dem Motto "Als die (Stadt)-Bilder laufen lernten" Szene an Szene und Bild an Bild zu reihen.

Und neben dem, was Tourismuswerbung und Wikipedia auflisten, immer noch ein bisserl mehr zu finden. Eben weil man fast – und im Wortsinn – darüber stolpert.

Foto: Thomas Rottenberg

Den "Maskalorian" etwa: Im Augarten trafen wir ihn samt Entourage, als er gerade mit Dreharbeiten für ein neues Graz-Video begann.

Dass er auch schon in Wien Masken verteilt hatte, wußte ich nicht – aber als wir ihn später, gegen Mittag, dann in der Altstadt einige Male wiedersahen, war ich schon ein Fan. Vielleicht ja auch wegen Yodas "Defeat the virus we must". Möge die "Mask" mit ihm sein. Oder so: Da ist auf Denglisch einiges an Wortspielmusik drin …

Natürlich könnte man derlei auch planen. Nur: wozu? Zufallsregie ist spannender. Auch wegen der zweiten "Geschichte" im Bild: SUP-Dümpler kennt man längst. Auf Seen. Auf fließenden Gewässern sind sie aber hier doch eher selten. Wie ein Renn-SUP aussieht und wie schnell so was sein kann, weiß außerhalb einer kleinen Szene kaum jemand: noch ein Sport, der mehr Öffentlichkeit verdient hätte.

Foto: Thomas Rottenberg

Auch wenn ich mir um Renn-SUPer (und -innen) keine Sorgen mache: Ohne die Herren (es waren nur Männer), die ein paar hundert Meter flußaufwärts trainierten, will ich mir den Sommer am Wasser nicht vorstellen: Hier war es die Grazer Berufsfeuerwehr, sonst sind es aber meist die Freiwilligen der Wasserrettung, bei denen ich mich für ihre (hoffentlich ja: Nicht-)Einsätze bedanke. Dass der Schwimmer kaum zu erkennen ist, ist fürs Foto natürlich blöd – es illustriert aber auch, wie rasch ein Mensch im Wasser verschwindet.

Was Wasserretter draufhaben, habe ich letzen Sommer in Waidhofen an der Ybbs miterlebt: beim "Riverthlon" – einem Swimrun durch die hochwasserführende Ybbs.

Der Riverthlon – das nebenbei – findet dieses Wochenende wieder statt. Ob ich dabei sein werde? Keine Ahnung: Ich schwimme für mein Leben gern – aber manche Ängste sitzen tief.

Foto: Thomas Rottenberg

Zurück an Land. Zurück nach Graz. Zurück ins laufende Stadterleben: Natürlich gehören die Standards dazu. Das "Siterunning". Murbrücken, Murufer, Kunsthaus. Die Blickachsen: Schlossberg. Altstadtgassen und -plätze.

Klassiker, die sich qua Bewegungsart aber immer anders anfühlen. Die zu jeder Uhrzeit eine andere Kraft, eine andere Aura und Identität entwickeln – und deshalb jedes Mal andere Geschichten erzählen.

Foto: Thomas Rottenberg

Gerade für Läufer und Läuferinnen erschließt sich da aber oft noch eine weitere Perspektive: Dass es selten Zufall ist, welchen Punkt einer Stadt man von wo aus wie sieht, wissen Architektinnen und Stadtplaner. Sie können es meist auch super (und gerne kompliziert) erklären.

Oder aber man "läuft Blick". Sucht und rennt solche Achsen. Nicht nur den (ja, eh, ein bisserl zurechtgezeichneten) Canaletto in Wien oder die Boulevards von Paris und New York: Wie präzise und wie überlegt diese Demonstration von Raumdominanz und Gestaltungsmacht und -wille, der weit über Fassaden hinausgeht, im Stadtbild umgesetzt wird, lässt sich auch in Graz fein und immer wieder und wieder erleben.

Foto: Thomas Rottenberg

Besonders gut funktioniert das frühmorgens. Dieses Bild ist von Sonntag, knapp vor acht Uhr früh (wir waren da schon über ein Stunde unterwegs, und es war auch jetzt schon drückend schwül): Bevor die Stadt aufsteht, sieht sie sogar in der touristischen Hochsaison Renderings noch recht ähnlich.

Sobald Straßen und Gassen aber voll sind, übersieht man und verspielt sich die Geschichte der Tiefe des Raumes rasch.

Foto: Thomas Rottenberg

Ein Fehler, den man bei solchen Läufen nicht machen darf, ist, ausschließlich zu laufen. Natürlich geht das. Und natürlich ist das für Flow, Pace und Trainingseffekte wichtig. Aber so versäumt man auch oft etwas: Die zehn Minuten, die wir staunend am Mariahilfer Platz beim "Bloc Summer" standen, waren alles andere als verlorene Zeit.

Nicht nur wegen der AthletInnen in der Wand, sondern auch aus Eigennutz: Graz hat ein Trinkbrunnen-im-öffentlichen-Raum-Netz, das (gefühlt) so dicht ist wie das in Wien – aber bei über 30 Grad sind ein paar Eiswürfel und ein Schuss Geschmack auch nett.

Foto: Thomas Rottenberg

Dass so eine Runde – egal wie kurz – natürlich auch auf den "Hügel" führen muss, ist klar. Der Schlossberg ist gehend, spazierend für viele schon eine Herausforderung. Sich aber laufend über die Stadt (egal welche) "hinaufzuschrauben", kann dann doch immer mehr als nur diesen einen Tick mehr.

Foto: Thomas Rottenberg

Die Blicke bleiben zwar die gleichen wie mit dem Aufzug, der Stolz ist aber doch ein anderer: Wenn Herz und Lunge arbeiten, wird Erleben intensiver, wertiger. Und wenn man Schönes teilt, gilt das genauso. Für und mit Lieblingsmenschen und Freunden sowieso, aber auch das Grüßen, das komplizenhafte Zunicken zwischen Läuferinnen und Läufern, von Menschen auf Renn- oder Motorrädern kommt daher: Wir teilen. Den Moment. Das Gefühl. Die Leidenschaft.

Foto: Thomas Rottenberg

Die Hermetik der Gruppe intensiviert das noch einmal. Auch das war schön und gut zu beobachten: Graz war an diesem Wochenende fest in der Hand diverser gut zuordenbarer "Rudel".

Neben den Boulderern gab es die hinter ihren schwarzen Metall-Outfits mit Massaker-Botschaften wie immer unendlich netten Metal-Fans, die zu "Metal on the Hill"-Festivals gekommen waren. Supermoto-GP-Fans sah man ebenfalls – und außerdem war ja Ferragosto. Aber vor allem stand die Stadt im Zeichen einer "Krankheit", die auch ich habe: Triathlon.

Foto: Thomas Rottenberg

Auch wenn wir diesmal nur zusehen (und einen guten Freund begleiten und anfeuern) würden: Das war noch eine Erlebnisachse. Noch eine Geschichte. Noch ein Fokus, noch ein paar Bilder und Perspektiven, noch ein Blick, um einen bekannten – vermeintlich längst zu Ende erzählten – Ort neu zu zeichnen.

Auch wenn es nur Nuancen und Details sind: Es ist ein anderes Bild. Ein anderes Erleben. Jedes Mal aufs Neue – und für jeden und jede ganz individuell.

Foto: Thomas Rottenberg

Natürlich gibt es Menschen, die über all das einfach "drüberlaufen". Wenn es sie glücklich macht: auch gut.

Mein Weg ist es halt nicht. Und genau für diesen Zugang stand der Event: Ich mag "Endurance". Aber eben auch das "&" – den Mehrwert im Kopf.

Deswegen tun mir nicht Christoph Szalay und Roland Schwarz leid, sondern all jene, die kommen wollten – es dann aber nicht taten: Sie haben etwas versäumt. (Thomas Rottenberg, 17.8.2021)

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Foto: Clara Wildberger