Charles A. Kupchan, Professor für internationale Angelegenheiten an der Georgetown University, verteidigt im Gastkommentar die Afghanistan-Politik des US-Präsidenten.

Es war unerträglich mitanzusehen, wie die Taliban Afghanistan überrollten und innerhalb weniger Monate zwei Jahrzehnte der Bemühungen der Menschen in Afghanistan und der internationalen Gemeinschaft um den Aufbau eines zivilisierten, sicheren und funktionierenden Staates zunichtemachten. Mit ihrem Einmarsch in Kabul brachten die Taliban ihre dramatische Offensive am Sonntag zum Abschluss und veranlassten Präsident Ashraf Ghani zur Flucht.

Afghanistans Führung habe versagt: US-Präsident Joe Biden rechtfertigte in einer Rede seine Politik.
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Die nahezu widerstandslose Machtübernahme der Taliban in Afghanistan wirft offenkundige Fragen darüber auf, wie klug die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden ist, die US- und Koalitionstruppen aus dem Land abzuziehen. Paradoxerweise bestätigen Rasanz und Mühelosigkeit des Vormarsches der Taliban jedoch nur, dass Biden die richtige Entscheidung getroffen hat – und dass er seinen Kurs nicht ändern sollte.

Die Unfähigkeit und der Zusammenbruch des Militärs sowie der afghanischen Regierungsinstitutionen unterstreichen Bidens Skepsis, dass die von den USA geführten Bemühungen zur Stärkung der Regierung in Kabul diese jemals in die Lage versetzen würden, auf eigenen Beinen zu stehen. 20 Jahre lang hat die internationale Gemeinschaft viele tausende Menschenleben und Billionen Dollar aufgewendet, um in Afghanistan Positives zu bewirken. Man hat die Al-Kaida zerschlagen, die Taliban zurückgedrängt, das afghanische Militär unterstützt, beraten, ausgebildet und aufgerüstet, die Regierungsinstitutionen gestärkt und in die Zivilgesellschaft des Landes investiert.

Fatale Fehler

Es wurden zwar bemerkenswerte Fortschritte erzielt, aber es reichte nicht. Wie der rasche Vormarsch der Taliban deutlich zeigte, ist es auch nach zwei Jahrzehnten beständiger Unterstützung nicht gelungen, afghanische Institutionen zu schaffen, die in der Lage sind, sich zu behaupten. Der Grund dafür besteht darin, dass die Mission von Anfang an mit fatalen Fehlern behaftet war.

Der Versuch, aus Afghanistan einen zentralisierten, einheitlichen Staat zu formen, war ein Irrweg. Die schwierige Topografie des Landes, die ethnische Komplexität, Stammeszugehörigkeiten und lokale Loyalitäten sorgen für anhaltende politische Fragmentierung. Die unruhige Nachbarschaft und eine tiefsitzende Abneigung gegen Einmischung von außen lassen ausländische Interventionen gefährlich werden.

Diese unabwendbaren Umstände waren dafür verantwortlich, dass sämtliche Anstrengungen, Afghanistan zu einem modernen Staat zu machen, scheiterten. Biden traf die schwierige und korrekte Entscheidung, sich zurückzuziehen und den fruchtlosen Bemühungen in Richtung eines unerreichbaren Ziels ein Ende zu setzen.

"Afghanistan verdient in nächster Zeit die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, doch die von den USA geführte Militärmission ist an ihr Ende gekommen."

Die Argumente für einen Rückzug werden auch durch die Tatsache untermauert, dass die Vereinigten Staaten – auch wenn sie im Bereich des Nationenaufbaus versagt haben – ihr wichtigstes strategisches Ziel dennoch erreicht haben: nämlich künftige Angriffe auf Amerika oder seine Verbündeten von afghanischem Gebiet aus zu verhindern. Die USA und ihre Koalitionspartner haben Al-Kaida in Afghanistan und Pakistan stark geschwächt. Das gilt auch für den afghanischen Ableger des "Islamischen Staates", der nachweislich nicht in der Lage ist, von Afghanistan aus grenzüberschreitende Anschläge zu verüben.

"Amerikanische Truppen können und sollten nicht in einem Krieg kämpfen und in einem Krieg sterben, den die afghanischen Streitkräfte nicht bereit sind für sich selbst zu führen", erklärte US-Präsident Joe Biden am Montagabend.
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Unterdessen haben die USA ein globales Netzwerk an Partnern aufgebaut, mit denen sie den Terrorismus weltweit bekämpfen, relevante Informationen austauschen und gemeinsam die Abwehr von Terroranschlägen im jeweiligen Land verstärken. Die USA und ihre Verbündeten sind heute ein viel schwierigeres Ziel als am 11. September 2001. Seit den Bombenanschlägen in London im Jahr 2005 ist es Al-Kaida nicht mehr gelungen, einen größeren Anschlag in entfernten Ländern zu verüben.

Internationale Legitimität

Natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass die Taliban Al-Kaida oder ähnlichen Gruppen nicht wieder Unterschlupf gewähren würden, aber es ist höchst unwahrscheinlich. Die Taliban sind gut allein zurechtgekommen und haben wenig Grund, ihre Partnerschaft mit Al-Kaida wieder aufleben zu lassen. Außerdem werden sie sich ein gewisses Maß an internationaler Legitimität und Unterstützung bewahren wollen und wohl jeder Versuchung widerstehen, Gruppen aufzunehmen, die Terroranschläge auf ausländische Mächte organisieren wollen. Überdies besteht für diese Gruppen auch wenig Anreiz, sich in Afghanistan neu zu formieren, wenn dies woanders leichter zu bewerkstelligen ist.

Schließlich hat Biden recht, an seiner Entscheidung festzuhalten, den Militäreinsatz in Afghanistan zu beenden, denn das entspricht dem Willen der US-amerikanischen Wählerschaft. Der Großteil der US-amerikanischen Öffentlichkeit – Demokraten wie Republikaner – hat die "ewigen Kriege" im Nahen und Mittleren Osten satt. Der illiberale Populismus, der zu Donald Trumps Wahl (und Beinahewiederwahl) führte, entstand teilweise als Reaktion auf die gefühlte US-amerikanische Überdehnung im Nahen und Mittleren Osten im weiteren Sinne.

Vor dem Hintergrund jahrzehntelanger wirtschaftlicher Unzufriedenheit unter US-Arbeitnehmern, die in jüngster Zeit durch die verheerenden Auswirkungen der Pandemie noch verschärft wurde, wollen die US-amerikanischen Wähler, dass ihre Steuergelder nach Kansas und nicht nach Kandahar fließen.

Richtige Richtung

Ob Bidens Anstrengungen zur Reparatur der US-amerikanischen Demokratie erfolgreich sein werden, hängt in erster Linie von den Investitionen im eigenen Land ab. Die derzeit dem Kongress vorliegenden Gesetzesentwürfe zu Infrastruktur und Sozialpolitik sind dabei entscheidende Schritte in die richtige Richtung. Aber auch die Außenpolitik ist von Bedeutung. Wenn Biden verspricht, eine "Außenpolitik für die Mittelschicht" zu betreiben, muss er sich in einer Art Staatskunst üben, die von der US-amerikanischen Öffentlichkeit unterstützt wird.

Afghanistan verdient in nächster Zeit die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, doch die von den USA geführte Militärmission ist an ihr Ende gekommen. Unglücklicherweise ist das Beste, was die internationale Gemeinschaft im Moment tun kann, die humanitäre Not zu lindern und die Afghanen dazu zu drängen, sich um Diplomatie, Kompromisse und Zurückhaltung zu bemühen, während ihr Land nun nach einem friedlichen und stabilen politischen Gleichgewicht sucht. (Charles A. Kupchan, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 18.8.2021)