Markus Rehm ist am 1. Juni in Bydgoszcz, Polen, mit seiner Unterschenkelprothese 8,62 Meter weit gesprungen.

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Markus Rehm, das dürfte feststehen, wird die Paralympischen Spiele (24. August bis 5. September) als Sieger verlassen. Alles andere als das dritte einschlägige Gold en suite für den unterschenkelamputierten Para-Weitsprungweltrekordler wäre mit dem Wort Sensation nur unzureichend beschrieben.

Nach Tokio reist der Mann aus Göppingen in Baden-Württemberg allerdings einen Monat nach seiner vielleicht schwersten Niederlage. Am 23. Juli hat der Internationale Sportgerichtshof CAS in Lausanne Rehms letzte Hoffnung auf eine Teilnahme am Weitsprung der Olympischen Spiele zunichtegemacht. Vor Anrufung der höchsten Instanz der Sportgerichtsbarkeit war eine Einigung mit dem Leichtathletikweltverband World Athletics (WA) gescheitert. Der von der britischen Lauflegende Sebastian Coe präsidierte Weltverband berief sich einmal mehr auf seine Regel 6.3.4, nach der Rehms Unterschenkelprothese ein mechanisches Hilfsmittel ist, sowie auf die Vorschrift, wonach Aktive nachweisen müssen, durch eine Prothese keinen Vorteil gegenüber Rivalen zu haben, die keine Prothese benötigen.

Pikanterweise hat der CAS die Beweislast schon im Vorjahr umgekehrt, also die Sportverbände selbst in die Pflicht genommen.

Kohlefaser und Wissen

Als 14-Jähriger war Rehm nach einem Sturz mit dem Wakeboard auf dem Main in die Schraube eines nachfolgenden Boots geraten. Sein rechtes Bein musste unterhalb des Knies amputiert werden. Seit 2004 sportelt er mit einer Unterschenkelprothese. Rehm absolvierte eine Lehre zum Orthopädiemechaniker/Bandagisten und widmete sich ganz der Leichtathletik. Er läuft und springt mit einer etwa ein Kilogramm schweren Sportprothese aus Kohlefaser, die sich aus Schaft und Feder zusammensetzt. Nach einer Studie der Deutschen Sporthochschule Köln bietet sie dem Weitspringer Rehm im Vergleich mit Athleten ohne Handicap Vorteile in der Absprungphase. Nachteile in der Anlaufphase könne sie aber nicht überkompensieren. Weitspringer mit und ohne Prothese bedienen sich unterschiedlicher Bewegungstechniken. Ein Vergleich der leistungslimitierenden Faktoren der unterschiedlichen Techniken sei noch nicht möglich. Heißt also: Nichts Genaues weiß man nicht.

Der Deutsche Leichtathletikverband (DLV) beantragte in Hinblick auf Olympia beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) Rehms Start "außer Konkurrenz". Der DOSB setzte Rehm auf seine Nominierungsliste, da er die Olympia-Norm von 8,22 Metern locker übertroffen hatte. Die Olympier gaben den Fall umgehend an World Athletics weiter, der das deutsche Ansinnen jedoch ablehnte. Der CAS schloss sich an – vermutlich zur heimlichen Erleichterung von Rehms Kollegen ohne Handicap. Gold gewann in Tokio der Grieche Miltiadis Tendoglou mit 8,41 Metern, zu Bronze hätten 8,22 Meter gereicht. Tendoglou hält die Jahresweltbestleistung mit 8,60 Metern. Rehms Para-Weltrekord steht seit 1. Juni dieses Jahres bei imposanten 8,62 Metern.

Paralympic Games

Dementsprechend frustriert verfolgte der Athlet in Bayer Leverkusen daheim auf der Couch die olympische Konkurrenz in Tokio. "Im Olympischen Eid schmückt man sich mit Inklusion, Gleichberechtigung und weiteren edlen Werten", schrieb er auf Instagram. Für diese Werte stünden Sportler, Trainer und Kampfrichter. "Verbände und deren Funktionäre schwören diesen Eid nicht, warum eigentlich?"

Um persönlichen Ruhm sei es ihm im Ringen um den Doppelstart bei Olympia und den Paralympics nicht gegangen. "Ich möchte erreichen, dass Kinder auf der ganzen Welt vor dem Fernseher sitzen und sehen, alles ist möglich, egal welches Schicksal sie erfahren", hatte Rehm anlässlich der Ankündigung seines Gangs zum CAS gesagt.

Zeichen setzen

Der Athlet will den Frust in Motivation umwandeln. Seinen 32. Geburtstag feiert er am Sonntag in Tokio – bestens vorbereitet auf seinen Wettkampf. Am Dienstagabend gastiert er gemeinsam mit Para-Skirennläuferin Anna-Maria Rieder und Para-Tischtennisspieler Yannik Rüddenklau beim Fußballsupercup zwischen der Borussia und Bayern München in Dortmund. Auch da steht die Mission im Vordergrund: "Ein Zeichen für Inklusion und den paralympischen Sport setzen".

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird das deutsche Team um Rehm persönlich auf dem Frankfurter Flughafen verabschieden. Am 1. September springt Rehm, der auch über 4 x 100 Meter den Titel mit Deutschlands Staffel zu verteidigen hätte, dann ziemlich sicher zur Goldmedaille. (Sigi Lützow, 18.8.2021)