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Mullah Abdul Ghani Baradar bei Außenminister Wang Yi in Peking.

Foto: AP / Xinhua / Li Ran

Die chinesische Presse gibt sich derzeit Mühe, ihre Schadenfreude über den Abzug der US-Truppen zu verbergen. In der als Sprachrohr der kommunistischen Partei bekannten Tageszeitung "Global Times" ist von einem "zweiten Saigon" die Rede. Die Propagandaabteilung der Partei ist mittlerweile zum Meister der Instrumentalisierung von Inhalten geworden. So deutet man das vermeintliche Versagen der US-Streitkräfte als Menetekel für eine Verteidigung von Taiwan.

Im Leitartikel der "Global Times" fordert man einerseits einen Rückzug amerikanischer Truppen von der Insel Taiwan. Andererseits glaubt man, einen Beweis dafür zu sehen, dass US-Truppen die Insel im Ernstfall gar nicht verteidigen, sondern abziehen würden. Die Nachrichtenagentur Xinhua schreibt: "Der ‚Fall von Kabul‘ läutet die Totenglocke der US-Hegemonie." So denken viele Hardliner und "Falken" in der Partei. Auch Präsident Xi Jinping erwähnte in seinen Reden immer wieder, die Welt werde "bald die größten Veränderungen seit 100 Jahren erleben".

Ganz so erfreut aber dürfte Peking über das Wiedererstarken der Taliban in Afghanistan nicht sein. Am Dienstag telefonierte deswegen Außenminister Wang Yi mit seinem amerikanischen Kollegen Blinken: "China ist bereit, mit den USA einen Dialog zu führen, um (…) einen neuen Bürgerkrieg oder eine humanitäre Katastrophe zu vermeiden", wurde Wang zitiert. Denn die dortige Präsenz der US-Truppen war auch für die kommunistische Partei ein Stabilitätsfaktor.

Unwirtliche Gegend

Von der uigurischen Stadt Kashgar führt der Karakorum Highway 4700 Meter hoch hinauf ins benachbarte Pakistan. Die 1979 eröffnete und kürzlich ausgebaute Straße führt über einen der höchsten Grenzübergänge der Welt. Flora und Fauna sind unwirtlich bis lebensfeindlich. Die wenigen Menschen in dieser Gegend sind meist Nomaden, die von und mit ihren Yak-Herden leben. Dort oben teilt sich die Volksrepublik eine schmale Landgrenze mit Afghanistan.

Der Wakhan-Korridor ist ein schmales Tal, das über eine Länge von insgesamt 67 Kilometern an die riesige Volksrepublik grenzt. Diese geografische Besonderheit ist ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert, als die Kolonialmächte Großbritannien und Russland eine Pufferzone zwischen ihren Einflusssphären schaffen wollten. Chinas größte Sorge ist, dass islamistische Terroristen über den Wakhan-Korridor in die Unruheprovinz Xinjiang gelangen könnten.

In den vergangenen Jahren hat Peking unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung ein ganzes Volk unter Generalverdacht gestellt. Bis zu zwei Millionen Uiguren wurden in "Umerziehungslagern" gefoltert und einer Gehirnwäsche unterzogen. Tatsächlich praktizieren die allermeisten der Uiguren einen gemäßigten Islam.

Angebliche Verbindungen zu Al-Kaida

Eine Splittergruppe, die sogenannte ETIM (East Turkestan Independence Movement), aber hatte sich in den Neunzigern nach gewaltsamen Protesten in Xinjiang nach Afghanistan zurückgezogen und dort den Mudjahedin angeschlossen. Auch enge Verbindungen zu Al-Kaida wurden ihnen nachgesagt.

Einige wenige Uiguren landeten nach der Invasion der Vereinigten Staaten im Gefängnis im kubanischen Guantánamo. Peking machte die Organisation immer wieder für Attentate verantwortlich, zuletzt für eine Messerattacke am Bahnhof von Kunming 2014. Über den Verbleib und die Mannstärke der Gruppe ist wenig bekannt. Experten wie der amerikanische Professor Sean Robert gehen von gerade einmal einem Dutzend Kämpfern aus und stellen das chinesische Narrativ infrage. Peking habe demnach die schwer nachweisbare Gruppe zu einem Phantomgegner aufgebauscht, um seine massiven Menschenrechtsverletzungen gegen die Minderheit der Uiguren zu rechtfertigen. Im vergangenen Jahr haben die USA deswegen die Gruppe von der Liste terroristischer Vereinigungen gestrichen.

Unabhängig von der Existenz und der Größe der ETIM ist durchaus vorstellbar, dass durch die schwer kontrollierbare Landgrenze zu Afghanistan Jihadisten nach Xinjiang einsickern. Den Boden für Extremismus und Verzweiflungstaten hat Peking durch seine grausame Politik in den vergangenen Jahren selbst geschaffen.

Gewaltige Investitionen

Die ETIM war auch Teil der Unterredung zwischen dem chinesischen Außenministerium und Gesandten der Taliban Ende Juli. Nach Moskau war Peking der zweite Stopp der Taliban gewesen.

Die Taliban wiederum dürften an Investitionen aus Peking interessiert sein. Pakistan und die meisten anderen zentralasiatischen Nachbarstaaten liegen auf der sogenannten Neuen Seidenstraße. Hinter dem wohlklingenden Projekt verbergen sich gewaltige Investitionen in die Infrastruktur dieser Länder und deren Marktöffnung für chinesische Produkte. (Philipp Mattheis aus Schanghai, 18.8.2021)