Es ist gar nicht so leicht, die eigene Stimme zu finden nach so vielen Jahren als Kunstfigur. "This is Paris Hilton", probiert es die Protagonistin der gleichnamigen Doku in der ersten Filmminute. "No, this is", haucht sie. Bis sie schließlich laut wird. "This is Paris fucking Hilton!"

Fünfzehn Minuten Ruhm stünden jedem zu, meinte seinerzeit Andy Warhol. Diese Viertelstunde hat Paris Hilton bereits um über zwei Jahrzehnte überzogen, ein Ende ist nicht wirklich absehbar. Dass sie zu ihrem Platz im Blitzlicht kam, ist für eine Urenkelin des Hotelgründers Conrad Hilton wenig erstaunlich. Dass sie immer noch dort ist und von den Ereignissen in ihrem Leben nicht gebrochen wurde, dafür umso mehr.

Paris Hilton

Es mag ein wenig stiller um sie geworden sein als noch in den Nullerjahren, erfolgreich und gut im Geschäft ist sie nach wie vor: Sie verantwortet unter ihrer Marke 19 Produktlinien, eröffnete 50 Boutiquen weltweit, veröffentlichte Bücher und Musik, hatte über die Jahre und bis heute zahlreiche erfolgreiche Fernsehshows, reist als DJ von Auftritt zu Auftritt und hat ein geschätztes Vermögen von rund 300 Millionen Dollar erwirtschaftet. Dennoch wird sie von vielen bis heute hauptsächlich mit einer Sache in Verbindung gebracht: dem Sex-Tape.

Das lustige Sexualverbrechen

Im Alter von 19 Jahren willigt sie ein, dass ihr damaliger 32-jähriger Partner Rick Salomon sie beide beim Sex filmt, ein Video, das nur für sie beide bestimmt sein soll. Teile des Tapes werden zwei Jahre danach – angeblich von einem Freund ihres mittlerweile Ex-Partners – geleakt. Und dann veröffentlicht und verkauft Salomon das Video in voller Länge und macht damit Millionen. Es ist sofort eine globale Sensation. Late-Night-Showhosts greifen den Knaller dankbar auf und verarbeiten ihn zu Stand-up-Comedy. Boulevardmedien kennen kaum noch ein anderes Thema. Und auch privat eignet es sich als Pointe zahlreicher Witze. "Würde das heute geschehen, es wäre eine ganz und gar andere Geschichte", sagt Hilton in einem Interview über diese dunkle Zeit in ihrem Leben.

Sie hat recht. Es ist nur schwer vorstellbar, dass in der Post-MeToo-Ära dieselbe Welle an Häme und Erbarmungslosigkeit über sie hereinbrechen würde wie noch in den frühen 2000ern. Heute würde der Fall wohl korrekterweise unter der Bezeichnung Racheporno laufen. Damals trug in den Augen der Öffentlichkeit die Schande aber nur sie allein: wahlweise als eiskalt kalkulierende Schlampe, die sich auf diese Art das Rampenlicht nachhaltig sichern wollte. Oder eben als dumme Schlampe, denn andernfalls würde sie sich wohl kaum in einer solchen Situation wiederfinden. In beiden Fällen verdiente sie die Schadenfreude, in beiden Fällen verdiente sie keinen Respekt, in beiden Fällen gab es keine Grenzen mehr, die noch gewahrt werden mussten.

Aus der "South Park"-Folge: "Stupid Spoiled Whore Video Playset".
Marcelino armuelles gordon

Noch Jahre später war sie in Interviews mit übergriffigen Fragen zum Video konfrontiert. So wie hier im Gespräch mit Piers Morgan fürs "GQ"-Magazin: "Sind Sie gut im Bett?" – "Bin ich was?" – "Gut im Bett. Ich schätze, das ist eine rhetorische Frage, ich habe das Video heute früh zu Recherchezwecken gesehen, und die Antwort ist ein eindeutiges Ja." Morgan kommentiert amüsiert, wie sie daraufhin rot wird, aber seiner Meinung nach "erfreut aussieht". Und das, nachdem sie ihm nur ein paar Absätze zuvor noch gesagt hat, wie zuwider ihr der Gedanke sei, dass Fremde sie nackt und in einem intimen Moment gesehen hätten.

"Wie eine elektronische Vergewaltigung" fühlte sich in ihren eigenen Worten diese Zeit an, sie habe einen Teil ihrer Seele verloren und sei suizidal gewesen. "Ich würde niemals die sein, die ich hätte werden können", so ihre bittere Erkenntnis. Bekannter – und berüchtigter – denn je zuvor blieben ihr im Grunde nur zwei Optionen. Der komplette Rückzug oder die Flucht nach vorn. Sie entschied sich für Letzteres.

"Ich bin kein blondes Dummchen, ich bin nur sehr gut darin, eines darzustellen."
SimpleHiltonRichie

Paris war ein Jahrzehnt lang überall, es gab quasi kein Entkommen. Das Guinness-Buch der Rekorde kürte sie 2007 gar zur überschätztesten Berühmtheit des Jahres, wenige Jahre später war sie laut "Forbes" eine der "most overexposed celebrities". Mit "The Simple Life", das kurz vor der Veröffentlichung des Sex-Tapes anlief, wurde sie auch auf dieser Seite des Ozeans einer ganzen Generation ein Begriff. Gemeinsam mit Freundin Nicole Richie stolperte sie in dieser Realityshow durchs Leben von Normalverdiener*innen. Erstmals präsentierte sie die Kunstfigur, die sie fortan begleiten und die sie später "The Character" nennen sollte: eine dumme Blondine, verwöhnt, ohne Arbeitsambitionen, eine menschgewordene Barbie.

Keine Frage, in den 2000ern verkörperte Paris Hilton zunächst einmal alles, was man als junge Frau auf keinen Fall sein wollte und von dem man sich dringend abzugrenzen hatte. Man war schließlich keines "dieser" Mädchen. Zu tussig, ohne erkennbares Talent, berühmt dafür, berühmt zu sein. Dass es aber einiges an Grips und Geschäftssinn braucht, zu verstehen, wie man die Strukturen, die einen fast zerstörten, für seine eigenen Zwecke nutzt, aus sich selbst eine Marke macht und schließlich ein erfolgreiches Businessimperium aufbaut, wurde gern übergangen. Zu deutlich legte ihre reine Präsenz die Absurdität der Celebrity-Kultur offen, zu schlecht war das Licht, das es auf einen selbst als Konsument*in derselben warf, und zu offensichtlich befeuerte sie die Maschinerie selbst.

Klar ist: Sie war die Erste, die diesen Weg ging, "The Original Influencer", wie sie in der Doku "The American Meme" genannt wird. Sie war der Präzedenzfall, sie erfand das Genre und liefert bis heute die Blaupause für junge Menschen, die ins Licht der Öffentlichkeit drängen und nichts zu vermarkten haben als sich selbst. Hilton sieht das mittlerweile kritisch: "Ich half, ein Monster zu erschaffen."

Schwererziehbar

Hilton vor dem Utah State Capitol.
ET Canada

Ihr größtes Trauma hielt sie über all die Jahre aber im Verborgenen, bis sie schließlich vor einem knappen Jahr das Schweigen brach. Sie erzählt, wie ihre Eltern sie als rebellischen Teenager im New York der 1990er-Jahre nicht unter Kontrolle bringen konnten. Wie sie von einem Erziehungslager ins nächste kam. Und wie sie schließlich nachts, 16-jährig, in einer inszenierten Entführung von zwei Männern aus dem Bett gerissen und in die Provo Canyon School in Utah verfrachtet wurde. Hier sollte sie elf Monate bleiben und ein Martyrium erleben: Ruhigstellung durch Medikamente, emotionale und physische Gewalt, Wärter, die ihr beim Duschen und auf der Toilette zusahen und Einzelhaft als Strafe, nackt und ohne Essen. Die Außenwelt und die Eltern der "Insassinnen" erfuhren davon nichts. Bis heute, als mittlerweile 40-Jährige, kämpft sie mit Schlafstörungen, wiederkehrenden Albträumen und Vertrauensproblemen. Dass sie fortan lieber in einer glitzernde Scheinwelt lebte, eine Fassade aufsetzte und bei der Suche nach Liebe an die falschen Menschen geriet, ist nachvollziehbar.

Sarah Silverman entschuldigt sich.
Sarah Silverman Podcast Clips

Man muss Paris Hilton nicht mögen oder gar ihr Wirken gutheißen. Man kann ihre Rolle und ihren Einfluss auf die Social-Media- und Influencer-Kultur, auf die ausufernde Selbstdarstellung im Netz und, ja, auch aufs toxische Frauenbild der 2000er kritisch sehen. Doch man muss sich auch selbst fragen, ob man wirklich erst alle Facetten einer Person und ihrer Geschichte kennen muss, um Empathie zu entwickeln – oder ob es vielleicht auch ausreicht, Zeuge zu sein, wenn ihr, wie damals beim Sex-Tape, offensichtliches Unrecht widerfährt. (Anya Antonius, 27.8.2021)