Buhs und Jubel in Salzburg: Unter Teodor Currentzis wird der "Don Giovanni" zur Glaubensfrage.

Foto: Anton Zavyalov

"Rebell", "Querdenker", "Grenzgänger" – so hieß es noch vor einigen Jahren, wenn von Teodor Currentzis die Rede war. Spätestens seit der Premiere des Salzburger Don Giovanni sind die Beschreibungen seiner Person um einige Begriffe reicher: Currentzis der Sektenführer, der Egomane, der Provokateur. Die deutschen Feuilletons stürzten sich förmlich auf den griechisch-russischen Dirigenten.

Mozarts "dramma" fand seinen unrühmlichen Ausklang in den Kritiken – ganz ohne "gioccoso" wohlgemerkt. Die Reaktionen reichten von beleidigt über besserwisserisch bis hin zu wutentbrannt. Vom "Mozart-Zerstörer" war etwa im Spiegel die Rede, wobei Currentzis hier zumindest noch ein "Wahnsinnstalent" attestiert wurde. Larmoyant schrieb sich die Welt über den "kritiklos bejubelten Triumph originalitätssüchtiger Adepten", während die FAZ gar vor dem neuen Führerkult um Currentzis warnte.

Pfeift auf Konvention

Currentzis, mittlerweile neunundvierzig, mag polarisieren, weil er kompromisslos seinen Weg geht und auf Konventionen pfeift. Das mag im Klassikbetrieb so manchen selbst im Jahr 2021 irritieren, ebenso wie die Tatsache, dass der gebürtige Grieche Kosakenbluse, Springerstiefel und knallenge schwarze Hosen statt Frack trägt und sich anstelle des adretten Seitenscheitels lieber einen Undercut verpassen lässt.

Currentzis weiß sich zu inszenieren, keine Frage. In Interviews erzählt er, dass er vor einer Premiere zwei Tage meditiert und erst kurz vor der Vorstellung das Operngebäude betritt, um jegliches Backstage-Gewusel zu vermeiden.

Für Currentzis steht die Musik an erster Stelle. Er probt nicht so kurz, sondern so lange wie möglich. Nicht selten kommt es vor, dass die Suche nach der perfekten Phrase, dem perfekten Akkord mehrere Stunden dauert. Manchmal gehen die Proben bis tief in die Nacht. Bei so manchem Wiener Orchester biss er sich die Zähne aus, weshalb er hier lieber mit seinem eigenen Klangkörper, der musicAeterna auftritt. Begriffe wie "Dienst" gibt es da nicht.

Musik als Mission

Professionalität interpretiert Currentzis ohnehin nur als ein anderes Wort für Mittelmaß – Musik sieht er nicht als Beruf, sondern als Mission. Currentzis macht keine Kompromisse, was den Klang angeht. Sein Orchester, das Spitzenmusiker aus aller Welt vereint, teilt die bedingungslose Hingabe zur Musik.

Currentzis, 1972 in Athen geboren, fand in Russland eine zweite Heimat. Während seiner Zeit als Chefdirigent in Nowosibirsk gründete Currentzis sein Originalklang-Orchester musicAeterna. Anfangs war das Ensemble so etwas wie eine Kommune, wo sich alles um Kunst, Musik, Poesie und progressive Ideen drehte.

Spätestens seit der Aufnahme von Mozarts Requiem ist es weltweit bekannt. Acht Jahre lang, von 2011 bis 2019, lebten und arbeiteten Currentzis und musicAeterna in Perm, wo der Dirigent seine Visionen frei verwirklichen konnte.

Finaler Höhepunkt war die Einspielung von Mozarts drei Da-Ponte-Opern. Nach Le Nozze di Figaro und Così fan tutte endete der Mozart-Zyklus mit einem düster-dramatischen Don Giovanni. Die gemeinsamen Aufnahmesessions dauerten bis zu 14 Stunden, wie besessen arbeiteten das Orchester und der Dirigent an musikalischen Details. Doch dann entschied Teodor Currentzis, die Aufnahme zurückzuziehen. Sie sei nicht perfekt, so die Begründung. Der damalige Sony-Classical-Chef Bogdan Roščić gab grünes Licht für einen zweiten Anlauf.

Salzburger Extravaganz

Und nun Salzburg: Wieder sind die Tempi straffer, als man es gewohnt ist. Das, was gemeinhin als "opernhaft" bezeichnet wird – übertriebenes Vibrato und überzeichnete Affekte –, gibt es nicht. Stattdessen erklingt Gesang von größter Intimität, und man staunt über die Ornamente, die die Sänger in den Soloarien verwenden. Currentzis’ Extravaganz besteht darin, Mozarts Partitur Schicht für Schicht freizulegen, um die Musik hinter den Noten hervorzuholen. Musik, die voller Dissonanzen und Widersprüche ist. Ausgelassenheit und Lebensfreude sind genau so nahe beieinander wie Verletzlichkeit und Wut.

Currentzis’ Interpretationen berühren, weil seine Kunst alles vereint: Text, Musik, Tanz und Gesang. Sie ist Bühne und Straße, hässlich und schön, vor allem aber ist sie zutiefst menschlich. Der Dirigent und sein Orchester malen mit Tönen, sodass auch ohne Bühne unweigerlich Bilder im Kopf entstehen. Dabei treibt Currentzis gerne das Tempo, die dynamischen Kontraste und die Phrasierung auf die Spitze – so sehr, dass es manchmal wehtut.

Ins Innere vordringen

Aber liegt nicht genau hier das Wesen der Kunst? Wo sonst darf man hemmungslos mitleiden und ungeniert verabscheuen, was einen insgeheim fasziniert? Mit seiner Musik lässt Mozart die Menschen in ihr tiefstes Inneres blicken, und dabei geht es um weit mehr als Heiterkeit, Drama und Schönklang. Mozarts Musik ist existenziell. Und sie ist lebendig. Teodor Currentzis lässt das seine Zuhörer mit jeder Note und jeder Phrase spüren, mit allen Risiken und Nebenwirkungen.

Blickt man zurück in die Geschichte, so befindet sich Currentzis in bester Gesellschaft. Was wäre die Musikwelt ohne Franz Liszt und Ludwig van Beethoven? Ohne Glenn Gould, Maria Callas oder Herbert von Karajan oder Nikolaus Harnoncourt?

Musik braucht diese Extreme, sonst drohen Routine und Mittelmaß. Anfang August gaben Currentzis und musicAeterna in Salzburg einen Konzertabend mit Mozarts letzten Symphonien in g-Moll und C-Dur, der "Jupitersinfonie" – ganz ohne Extreme, dafür mit einer Eindringlichkeit, die man lange vermisst hat. Der Musikbetrieb muss Künstler wie Currentzis aushalten können. Nichts anderes macht Mozart mit seiner Musik. (Miriam Damev, 19.8.2021)