Die österreichische Autorin Eva Menasse nimmt sich immer wieder der Nazivergangenheit des Landes an.

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Seit Stunden läutet beim Bürgermeister Koreny im Dunkelblumer Gemeindeamt das Telefon. Die Reporter interessiert aber leider nicht der Kampf der ansässigen Bauern um eine eigene Wasserversorgung, den der Neue im Bürgermeisteramt gerade niederzuschlagen hat. Sondern sie wollen Informationen über den Fund menschlicher Überreste auf einer Wiese über dem Städtchen, den überraschenden Tod der Dunkelblumerin Eszter Lowetz und das Verschwinden einer Studentin im Heimurlaub.

Sie und die Verstorbene hatten Nachforschungen zur Geschichte des Ortes im Zweiten Weltkrieg angestellt. Dabei sind sie auf Kriegsverbrechen gestoßen. Nach einem Fest im örtlichen Schloss im März 1945 wurden Zwangsarbeiter von der SS im Wald erschossen und von der Hitlerjugend verscharrt. Angesichts all dessen möchte Koreny fast "glauben, er sei mitten in einem Kinofilm". Ist er aber nicht, sondern etwa auf Seite 440 im neuen Roman von Eva Menasse.

"Ösi"-Folklore

"Die Österreicher sind ein Volk, das mit Zuversicht in die Vergangenheit blickt", schickt die Autorin diesem als Redensart voran. Auf 500 Seiten schaut sie in Dunkelblum höchst kritisch in die Geschichte zurück und auf ihre Protagonisten im Ort am Eisernen Vorhang. Wir schreiben 1989. DDR-Flüchtlinge tröpfeln über die Grenze und verstecken sich in burgenländischen Jagdhütten.

Kurz wird man wegen ihrer Sorge um die Flüchtlinge meinen, die Dunkelblumer hätten sich gebessert. Vielleicht soll der DDR-Aspekt den Roman auch für den großen deutschen Lesermarkt attraktiver machen. Wobei: Die Piefkes mögen ihre "Ösis", und mit passender Folklore hält Menasse nicht hinterm Berg. Zu Festtagen wie dem Besuch des einstigen Grafen werden die alten Trachten gebügelt. Auch sagt man hier noch "Dodl" zum geistig Langsamen oder zum Gatten "Toni, halt die Pappn".

"Goscherte" Revoluzzerin

Dies entstammt dem Mund von Leonore Malnitz – um irgendwo im Figurengewirr einzuhaken. Immer, wenn Menasse eine Figur vorstellt, liefert sie deren halbe Lebensgeschichte gleich mit. So dauert es rund 200 Seiten, bis die Handlung nach dem Fund der Wiesenleiche ("Gerichtsmedizin, LKA, Staatsanwalt, Spurensicherung, Tatortexperten, Fotoreferat, bist du deppert. An einem Sonntag.") erneut bei jener vorbeischaut. Dramaturgisch ginge das eleganter. Jedenfalls erfährt man so kompakt, dass die schöne Winzersfrau und Hotelbetreiberin Leonore Malnitz aus dem prächtigeren Nachbarort zugeheiratet hat. Und dass ihre freigeistige, manche sagen "goscherte" Tochter dem Gatten mit Grund weniger ähnelt als dem Nachbarwinzer.

Mehr ist mehr. Menasse hat einen Hang zu Attributen und bedeutungsschweren Vergleichen. Auf ihrer Suche nach Kriegsverbrechern rennt Tochter Flocke beim schwulen Reisebürobetreiber und Hobbyhistoriker offene Türen ein und weckt das Interesse des nach dem Tod der Mutter aus Wien heimgekehrten Lowetz. Von dort sind auch "Langhaarige" angereist, um den verwilderten jüdischen Friedhof zu sanieren.

Auf Argwohn stößt all das hingegen bei Resi Reschen. Das einstige Zimmermädl des "Tüffer" hat 1938 von der jüdischen Besitzerin den Hotelschlüssel in die Hand bekommen und ihn seither nicht hergeben müssen. Was, wenn jetzt Erben aus Argentinien oder sonstwo kommen und ihn zurückfordern!?

Repräsentative Breite

Ja, es wimmelt in Dunkelblum nur so von skurrilen Figuren. "Wie konnte man Geschichte besser zeigen als über einzelne Menschen, darunter auch die sogenannten kleinen Leute?" – diese moderne Vision für das Heimatmuseum, das entstehen soll, hat sich auch die Autorin zu Herzen genommen. Ganz im Sinn einer Bottom-up-Geschichtsschreibung schlüpft sie in die Haut des halben Dorfes. Bruchstücke fügen sich zum Gesamtbild. Wir begegnen unter anderem einem Altnazi und ungeschoren davongekommenen Mördern. Aber auch Reue ("Wäre er erst einmal in Gewahrsam gewesen, hätten vielleicht ein paar andere auch etwas gesagt. Sie wollte nicht die Einzige sein") sowie selbstgeschaffene Grauzonen ("Josef, ihr Mann und Vater ihres Sohnes, war ein anständiger Nazi") zeigen sich.

Man muss an Raphaelea Edelbauers Das flüssige Land, David Schalkos Bad Regina und Lisa Eckharts Omama denken, ebenso Romane voll kurioser Charaktere, die die Nazi-Zeit aufarbeiten. Manches ist dort origineller verarbeitet. So engagiert Menasse sich vor der historischen Folie des Massakers von Rechnitz auch um eine repräsentative Breite von Schicksalen und historischem Unrecht bemüht – es führt zu nichts Neuem, schärft nichts Bekanntes nach. Bequem im Wendejahr angesiedelt und zwischen Dorfroman, Deutung der Volksseele, Tragik und Humor schwankend, fühlt sich das, gut gemeint, eher an wie leichtes Bauerntheater denn wie ein großer Wurf. (Michael Wurmitzer, 19.8.2021)