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Gekommen, um zu bleiben: In ganz Kabul inszenieren sich die Taliban als die neuen – wie bisher stets bewaffneten – Machthaber.

Foto: AP

Der Tag neigte sich schon seinem Ende zu, als Mullah Abdul Ghani Baradar Akhund am Dienstag in Kandahar aus dem Flugzeug stieg und auf dem windigen Rollfeld von Vertrauten und Weggefährten begrüßt wurde. Der 53-jährige Mitbegründer der Taliban-Bewegung, früher Stellvertreter von Mullah Mohammed Omar, betrat nach zwei Jahrzehnten erstmals wieder den Boden jenes Landes, in dem er wohl zu einer der Schlüsselfiguren der nächsten Monate oder gar Jahre werden dürfte. Auf den Straßen Kandahars wurde der Rückkehrer bejubelt – zumindest von manchen der Bewohner. Denn andererseits waren aus der Stadt, die einst als Hochburg der Taliban galt, tags darauf auch anderen Meldungen zu lesen. Taliban würden von Haus zu Haus gehen, und diese auf Hinweise nach einer Zusammenarbeit mit den Amerikanern absuchen. Immerhin Tötungen habe es bisher noch nicht gegeben, so die Berichte in den sozialen Medien.

Baradar war 2010 im benachbarten Pakistan verhaftet, dann aber 2018 auf Ersuchen der damaligen US-Regierung unter Donald Trump wieder freigelassen worden, damit er in Doha an den Friedensgesprächen zwischen Taliban und afghanischer Regierung teilnehmen konnte. Ein Taliban-Vertreter sagte am Mittwoch zur Nachrichtenagentur Reuters, so wie Baradar würden sich jetzt nach und nach alle Führer der Bewegung der Welt zeigen. "Es wird keinen Schatten der Geheimhaltung mehr geben."

Allerdings gab es auch erste Details zur Regierungsform, die sich die Radikalislamisten vorstellen. Und diese soll sich, wie ein Sprecher, Waheedullah Hashimi, der Agentur Reuters sagte, nicht massiv von jener unterscheiden, die es während der ersten Taliban-Regierung 1996 bis 2001 gab. Demnach soll das Land von einem Taliban-Rat geführt werden, dem der bisherige Oberste Führer der Taliban, Mawlawi Hibatullah Akhundzada, übergeordnet sein soll. Er soll auch über dem Chef des Rats stehen, der formell Präsident des Landes sein werde – vermutlich wird dies Baradar sein.

Das Land werde aber jedenfalls "keine Demokratie" sein, heißt es weiter, es werde vielmehr "nach islamischem Gesetz" regiert werden. Hashimi betonte diesen Aspekt: "Es wird keine Demokratie geben, weil es keinerlei Tradition dafür in unserem Land gibt. Wir werden über die Art des politisches Systems auch nicht diskutieren, weil die Antwort völlig klar ist: Es ist das Gesetz der Scharia, und damit ist die Sache erledigt."

Informelle Gespräche

Gleichzeitig liefen auf informeller Ebene Gespräche, um die Rahmenbedingungen der nächsten Zeit zu fixieren: Mehrere hochrangige Taliban-Kommandanten trafen Berichten zufolge Ex-Präsident Hamid Karzai.

Die Flucht von Karzais Nachfolger, Ashraf Ghani, scheint unterdessen in den Vereinigten Arabischen Emiraten zu Ende gegangen zu sein. Man habe Ghani aus "humanitären Gründen" aufgenommen, ebenso dessen Familie, teilte das Außenministerium in Abu Dhabi am Mittwoch mit. Über Ghanis Flucht, die zunächst nach Usbekistan geführt hatte, gibt es zahlreiche für ihn unrühmliche Berichte. So soll er unter anderem große Mengen Bargeld mitgenommen haben.

Widerstand in Panjshir

Der Botschafter in Tadschikistan, Mohammad Zahir Aghbar, sprach in einer Pressekonferenz am Mittwoch gar von 169 Millionen Dollar. Er hat in der Hauptstadt Duschanbe auch seine Loyalität zum Vizepräsidenten des Landes, Amrullah Saleh, bekundet, der sich in Ghanis Abwesenheit selbst zum legitimen amtsführenden Präsidenten ausgerufen hat.

Saleh versucht in der bisher nicht von den Taliban eingenommenen Provinz Panjshir auch militärischen Widerstand zu organisieren. Ihm soll dabei auch Material der afghanischen Armee in die Hände gefallen sein. In den 1990er-Jahren war Panjshir eine Hochburg der Anti-Taliban-Nordallianz.

Keine Überraschung

Dass die USA nur vom Tempo, aber nicht von der Ausrichtung der Ereignisse in Afghanistan überrascht wurden, darüber berichtete am Mittwoch die "New York Times" unter Berufung auf Geheimdienstquellen: Schon im Juli habe man vor einem sehr raschen Zusammenbruch des afghanischen Militärs gewarnt. Offiziell erklärte US-Präsident Joe Biden damals noch, dass eine Machtübernahme der Taliban in ganz Afghanistan unwahrscheinlich sei. Für diese Fehleinschätzung wurde er auch am Mittwoch heftig kritisiert.

Für viele Afghaninnen und Afghanen hatte indes weniger die Politik als das persönliche Über- oder zumindest Weiterleben oberste Priorität. Weiter hielt sich bei vielen die Angst vor tödlichen Repressionen, dennoch wurde in mehreren Städten gegen die Taliban protestiert. Bei einer Kundgebung in Jalalabad kamen mindestens drei Personen ums Leben. Die Menge dort hatte zuvor eine Flagge entfernt, die Taliban anstatt der offiziellen Fahne Afghanistans aufgehängt hatten. Berichte über Hinrichtungen – etwa in einem Stadion in Kandahar – und gezielte Tötungen machten zwar die Runde, konnten aber vorerst nicht bestätigt werden. Außerhalb Kabuls sind kaum noch unabhängige Journalistinnen und Journalisten vor Ort.

Unterdessen wurden die Evakuierungsflüge für tausende Ausländer fortgesetzt, bis Mittwochmittag konnten rund 2.200 Personen abreisen. Während die Missionen für Ausländer glatt zu laufen schienen, mehrten sich am Mittwoch die Zweifel daran, dass auch tatsächlich alle "Ortskräfte", also Afghaninnen und Afghanen, die im Dienste westlicher Länder standen, evakuiert werden können. Sie fürchten Racheakte der Taliban. Neben den USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich wollte nun auch Italien eine Luftbrücke errichten.

Chaos rund um Evakuierungen

Wie schon an den Tagen zuvor kam es am Flughafen von Kabul zu Chaos – nicht zuletzt, weil sich die Gerüchte hartnäckig halten, dass alle, die es auf das Flughafengelände schaffen, auch ausgeflogen werden. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Westliche Militärs übten am Eingang zum Gelände strengste Kontrollen, sie wiesen auch Familien, die sich nicht ausweisen konnten, wieder ab und schickten diese in Richtung der aufgebauten Taliban-Checkpoints. Zugleich haben auch die Radikalislamisten ihre angeblich den USA gemachte Zusage nicht eingehalten, allen Zivilisten auf dem Weg zum Flughafen freies Geleit zu gewähren. Zahlreiche Berichte bezeugten strenge Kontrollen und die Abweisung vieler Afghanen, auch wenn diese gültige Einreisepapiere für andere Staaten vorweisen konnten. Bilder eines "Los Angeles Times"-Fotojournalisten belegten zudem, dass es an den Checkpoints auch zu Gewalt gegen Frauen und Kinder gekommen ist.

Während die österreichische Bundesregierung immer noch versuchte, ihre Abschiebepolitik zu rechtfertigen, konnte man die Afghanistan-Sondersitzung im britischen Unterhaus stellvertretend für andere Dispute von Berlin bis Washington betrachten: Von fahrlässiger Handhabung der aktuellen Situation, in der noch viel mehr geholfen werden müsse, war etwa die Rede. Der Westen habe bewiesen, dass es ihm an strategischer Geduld fehle, analysierte der Chef des Auswärtigen Ausschusses, Tom Tugendhat, ein konservativer Parteifreund von Premier Boris Johnson: "Wir bekommen eine harsche Lektion erteilt." Labour-Oppositionsführer Keir Starmer warf dem Regierungschef gleich mehrfach Gleichgültigkeit, Planlosigkeit und Nachlässigkeit vor. (Gianluca Wallisch, Manuela Honsig-Erlenburg, Manuel Escher, Sebastian Borger aus London, 18.8.2021)