Washintgon/Kabul – Das Chaos beim Abzug der US-Truppen war nach Ansicht von US-Präsident Joe Biden unvermeidbar – aufgrund des Zusammenbruchs der afghanischen Regierung und ihres Militärs und der schnellen Machtübernahme der Taliban. In einem TV-Interview versicherte Biden, dass die US-Soldaten für die Evakuierungen notfalls auch über den geplanten Abzugstermin 31. August hinaus am Flughafen Kabul bleiben werden. Dort hat es nach neuen Meldungen der Nato und der Taliban bisher schon mindestens zwölf Tote gegeben. Unterdessen fror der Internationale Währungsfonds (IWF) auf Druck des US-Finanzministeriums den Großteil von Afghanistans Währungsreserven ein.
In der EU gibt es derweil weiter Uneinigkeit um den Umgang mit der Situation. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP), der sich massiv gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aus Afghanistan sträubt, kritisierte am EU-Innenkommissarin Ylva Johansson und forderte von ihr eine "Klarstellung". Johansson hatte auf legale Fluchtrouten aus Afghanistan gedrängt. Er erwarte sich "eine sofortige Klarstellung und Gewissheit darüber, dass die Kommission auch die Meinung der Mitgliedsländer vertritt", betonte Nehammer.
Biden war angesichts der Rückkehr der Taliban an die Macht massiv in die Kritik geraten. In einem Interview für den US-Fernsehsender ABC verteidigte er das Vorgehen der Regierung beim Truppenabzug. "Die Vorstellung, dass es irgendwie einen Weg gibt, ohne folgendes Chaos rauszukommen – ich weiß nicht, wie das gehen soll", sagte er.
"Kein Konsens" bei Geheimdiensten
Innerhalb der Geheimdienste habe es "keinen Konsens" bezüglich der Prognosen für Afghanistan gegeben. Es habe geheißen, eine Machtübernahme sei gegen Ende des Jahres wahrscheinlicher, hielt der US-Präsident Medienberichten entgegen, wonach die Regierung intern Warnungen vor einem sehr schnellen Zusammenbruch bekommen haben soll. Dabei unterstützte ihn auch der Generalstabschef Mark Milley: "Es gab nichts, das ich gesehen habe, oder irgendjemand anders, das auf einen Zusammenbruch dieser Armee und dieser Regierung innerhalb von elf Tagen hingewiesen hätte."
Bei der Evakuierung gibt es teilweise Probleme mit den Taliban. Zwar würden die Islamisten "kooperieren" und US-Bürger und Botschaftsmitarbeiter ausreisen lassen. Aber bei früheren afghanischen Mitarbeitern der US-Behörden und der US-Streitkräfte gebe es "ein bisschen mehr Schwierigkeiten", berichtete Biden, noch bevor die Nato und auch die Taliban am Donnerstag konkrete Opferzahlen vom Flughafen bekanntgaben. Diese liegen seit Sonntag demnach bei insgesamt mindestens zwölf Getöteten und zahlreichen Verletzten.
Auch europäische Verbündete der USA nennen im Zusammenhang mit den Evakuierungen immer wieder Probleme. Italiens Premier Mario Draghi arbeitet dem Vernehmen nach unter anderem deshalb an der Einberufung eines außerordentlichen G20-Gipfels zu Afghanistan.
Die USA wollen auch etwa 50.000 bis 65.000 Helfer einschließlich ihrer Familien in Sicherheit bringen. Biden legte sich nicht fest, ob der Einsatz des US-Militärs auch dafür verlängert würde. "Die Verpflichtung besteht darin, alle rauszuholen, die wir rausholen können, und alle, die rausgeholt werden sollten", sagte er. Das Ziel sei weiter, den Einsatz am 31. August abzuschließen. Aber: "Wenn dort noch amerikanische Bürger sind, werden wir bleiben, bis wir sie alle rausgeholt haben."
Streit um Flughafen
Der Flughafen wird inzwischen vom US-Militär kontrolliert. Der Kommandeur der US-Truppen dort steht nach Militärangaben regelmäßig in Kontakt mit den Taliban. Verteidigungsminister Lloyd Austin erklärte, das Militär werde "alles tun, was in unserer Macht steht", um die Lage zu entschärfen und dafür zu sorgen, dass die Menschen zum Flughafen durchgelassen werden. Er betonte allerdings, dass es dem US-Militär nicht möglich sei, seinen Einsatz auf Kabul auszuweiten.
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Die Taliban haben Kabul unter Kontrolle und vor dem Flughafen Checkpoints errichtet. Berichten zufolge wurden viele Afghanen, aber auch manche Ausländer von ihnen nicht durchgelassen. Rund um den Flughafen harrten hunderte Menschen aus, berichteten Augenzeugen der dpa. Kinder, Frauen und Männer hielten sich in den Straßen um das Flughafengelände auf.
WHO fordert Fortsetzung humanitäre Hilfe
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) forderte am Mittwoch eine Fortsetzung der Hilfe für Afghanistan – auch unter Hinweis darauf, dass das Gesundheitssystem des Landes durch Monate der Gewalt und mangelhafte Mittel zum Kampf gegen die Corona-Pandemie angeschlagen sei. Großbritanniens Außenminister Dominic Raab kündigte via Twitter an, die humanitäre und die Entwicklungshilfe für heuer auf 286 Millionen Pfund (336 Millionen Euro) zu verdoppeln. Deutschland, Finnland und Schweden wollen vorerst keine Entwicklungshilfe mehr leisten. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen hatte am Mittwoch mitgeteilt, dass sie ihre medizinischen Projekte in fünf afghanischen Provinzen fortsetzt.
Die selbsternannte Taliban-Regierung darf vorerst nicht auf allzu viele Geldmittel hoffen: Die US-Regierung und die US-Notenbank haben den Großteil von Afghanistans Währungsreserven in den USA eingefroren. Der Internationale Währungsfonds setzt den Zugang des Landes zu IWF-Ressourcen wegen der unklaren Regierungsverhältnisse aus.
"Derzeit herrscht innerhalb der internationalen Gemeinschaft Unklarheit über die Anerkennung einer Regierung in Afghanistan, was zur Folge hat, dass das Land keinen Zugang zu IWF-Ressourcen hat", sagte ein IWF-Sprecher, unter anderem zu den Sonderziehungsrechten, mit denen Mitglieder gewöhnlich auf Mittel aus dem IWF zugreifen können. Darunter fallen außerdem etwa 440 Millionen Dollar (376 Millionen Euro) an neuen Währungsreserven.
Auch bei der Blockade der Währungsreserven in den USA geht es darum, die Anlagen nicht in die Hände der Taliban fallen zu lassen, zitierte unter anderem die "Washington Post" Kreise aus dem US-Finanzministerium.
Druckmittel für westliche Staaten
Der nach der Machtübernahme der Taliban außer Landes geflohene afghanische Zentralbankchef Ajmal Ahmady hatte am Mittwoch auf Twitter erklärt, rund sieben Milliarden Dollar (sechs Milliarden Euro) der Reserven seien bei der US-Notenbank in Verwahrung. Weitere zwei Milliarden Dollar sind demnach anderweitig international angelegt.
Die Taliban hätten daher wohl nur Zugriff auf bis zu 0,2 Prozent der Währungsreserven, schrieb er. Weil in Afghanistan bisher deutlich mehr US-Dollar ausgegeben als eingenommen wurden, war die Zentralbank zudem auf regelmäßige Lieferungen von US-Bargeld angewiesen. Ahmady zufolge hat die Zentralbank nun aber kaum mehr US-Dollar, weil die Lieferungen angesichts des Vormarschs der Taliban eingestellt worden seien. Der Mangel an US-Dollar könnte zu Kapitalkontrollen, einer Begrenzung von Abhebungen und zu einem Verfall des Kurses der örtlichen Währung führen.
Iran, China und Russland ringen um Einfluss
Indes koordinieren sich die Regionalmächte aus der näheren Umgebung Afghanistans. Der Iran etwa ist laut seinem neuen Präsidenten Ebrahim Raisi zur Zusammenarbeit mit Russland und China bereit, um "Stabilität und Frieden" in Afghanistan zu sichern. In einem Telefonat mit Chinas Präsident Xi Jinping sagte Raisi, Teheran wolle sich auch für die "Entwicklung, den Fortschritt und den Wohlstand" in Afghanistan einsetzen, wie es auf der offiziellen Website der iranischen Präsidentschaft am Mittwoch hieß. Auch während eines Telefonats mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin habe Raisi die Bereitschaft des Iran zu "jeglicher Kooperation" deutlich gemacht, um "Frieden und Ruhe in Afghanistan durchzusetzen".
Die Beziehungen zwischen Teheran und den Taliban sind historisch schwierig. Im Jahr 1998 hatten Taliban-Kämpfer das iranische Konsulat im nordafghanischen Mazar-e-Sharif überfallen und mehrere Diplomaten sowie einen Journalisten getötet. In der Folge war es beinahe zu einem iranischen Einmarsch in Afghanistan gekommen. (Reuters, APA, red, 19.8.2021)