"Jetzt Leben retten" war das Motto einer kurzfristig angesetzten Demo, die am Donnerstagabend in Wien stattfand. Der Zulauf war größer als erwartet. Die Organisatoren von "Links" zählten auf dem Höhepunkt 3.500 Teilnehmer, die Polizei 1.500.

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Dafür, dass sie das "allererste Mal auf einem politischen Podium" spricht, schenkt Birgit der Regierung gleich ordentlich ein. Die 14-Jährige, die sich beim Jugendrat engagiert, ist eine von rund 2.500 Menschen, die am Donnerstagabend in Wien unter dem Motto "Leben retten jetzt" für sichere Fluchtwege und die Aufnahme von Flüchtenden aus Afghanistan demonstrierten. Für die türkisen Ansagen, weiterhin Afghanen abschieben zu wollen und keine nach Österreich zu lassen, hat Birgit in ihrer Rede ein geharnischtes Urteil parat: Ein "Verbrechen an der Menschlichkeit" sei das. Kanzler Sebastian Kurz und Innenminister Karl Nehammer (beide ÖVP) sei das Schicksal der Afghaninnen und Afghanen nach der Machtübernahme der Taliban "scheißegal", glaubt sie. Doch Österreich müsse mithelfen, die akut bedrohten Menschen herzuholen, denn die Nachbarländer seien schon massiv überfordert.

Die Demo begann am Donnerstag zu früher Abendstunde vor der ÖVP-Zentrale in der Wiener Lichtenfelsgasse.
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Wenige Meter entfernt befindet sich die Parteizentrale der ÖVP, die zum Startpunkt des Protests auserkoren wurde, weil dort die Asylpolitik der Regierung gemacht werde. "Die Grünen sind ja leider nur Beiwagerl", sagt Can Gülcü von der Partei Links, die die Demo organisiert hat. Auch Fahnen anderer linker Gruppierungen werden geschwenkt, zudem sind Anti-Abschiebe-Initiativen und Aktivisten der afghanischen Community stark präsent.

Nach Afghanistan darf und kann momentan nicht abgeschoben werden, auch wenn die ÖVP bis vor kurzem noch mit dem Gedanken spielte. Bei der Demo war man über das türkise Ansinnen empört.
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Unauffällig in die Menge hat sich die grüne Migrationssprecherin Ewa Ernst-Dziedzic gemischt. Sie demonstriert damit vor der Parteizentrale des eigenen Regierungspartners. Ob das nicht ein eigenwilliger koalitionärer Kommunikationsmodus ist? Dziedzic findet nicht: "Die ÖVP ist sicher nicht überrascht, dass ich da bin. Ich bin seit zwanzig Jahren Aktivistin, und die Hilfe für Afghanistan ist ein wichtiges Anliegen." Selbst aufs Podium steigen wollte die Abgeordnete aber nicht, zumal man ihr das seitens der Organisatoren wohl auch nicht erlaubt hätte. Immer wieder empörten sich Demo-Redner darüber, dass die Grünen die rabiate ÖVP-Asylpolitik letztlich mittragen. "Ich halte es aus, ausgebuht zu werden, und finde es toll, dass so viele Leute hier sind", sagte Dziedzic zum STANDARD.

Abgesehen vom drängenden Thema hat mutmaßlich auch das Wetter, das für eine Demo wie angerichtet war, zum regen Zulauf beigetragen: nicht zu kühl zum Stehen, nicht zu warm zum Gehen. Dem Anschein nach waren deutlich mehr Frauen unterwegs: Die "Omas gegen Rechts" sowieso, aber vor allem viele Jüngere.

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Die 17-jährigen Wiener Schülerinnen Mia und Marie etwa, die sich allenthalben mit ihren Demoschildern "Hoch die internationale Solidarität" und "Asylrecht = Menschenrecht" positionierten. Mia war zuvor schon bei vielen Fridays-for-Future-Demos und findet es motivierend, eine größere Menge mit sich auf der Straße zu wissen. Man fühle sich ohnehin schon ohnmächtig genug, wenn man erkenne, dass man für die Menschen in Afghanistan von hier aus so wenig unmittelbar tun könne. Vorerst bleibe daher nur, in Österreich für einen offeneren Kurs zu kämpfen.

Kein Bier, bitte

Bier hatten Mia und Marie keines dabei. Das ist deshalb von Belang, weil kurz nach Beginn der Kundgebung eine Moderatorin das Mikro ergriff, um lautstark auf antialkoholische Getränke zu pochen. "Weiße Personen" mögen doch "bitte aufhören, Bier zu trinken", lautete die Durchsage. Die Initiatoren von Links erklären das wundersame Wording auf Nachfrage damit, dass die Demo auch ein "Trauermarsch" sei – insbesondere aus Sicht hier lebender Afghanen, die familiäre Bindungen in die alte Heimat haben und somit speziell von den jüngsten Ereignissen betroffen sind. Daher solle keine bierselige Partystimmung aufkeimen. Die Hautfarbe habe die Moderatorin bloß herausgegriffen, weil die mit Gerstensaft munitionierten Demo-Teilnehmer eben sämtlich weiß gewesen seien. Religiösen Hintergrund habe der Bierbann keinen, versichern die Linken, die ein Bündnis mit der Kommunistischen Partei pflegen.

Die Wegstrecke zwischen ÖVP-Zentrale und Kanzleramt beträgt kaum einen Kilometer, hier eine Aufnahme der Demo hinter dem Burgtheater
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Tatsächlich traten einige junge Leute mit afghanischem Hintergrund auf den Kleinlaster, der als Bühne fungierte, um die desaströse Lage in ihrem Herkunftsland deutlich zu machen. Ehsan Batoori zum Beispiel, ein Mittzwanziger, der vor einigen Jahren selbst beinahe abgeschoben worden wäre und nun von verzweifelten Nachrichten seiner Bekannten berichtete. Die Taliban würden die Wohnungen der Bevölkerung heimsuchen und Angst und Schrecken verbreiten. Niemand könne sicher sein, dass er morgen nicht getötet werde, daher müsse die EU inklusive Österreich sofort handeln. "Nicht nur Frauen und Mädchen, sondern alle müssen rausgeholt werden", forderte der Aktivist unter großem Applaus. Und an den Kanzler gerichtet fragte Batoori: "Was würden Sie machen, wenn Sie ein Afghane in Kabul wären?"

Rasche Evakuierung vor Taliban

Auch die angehende Juristin Shugufa Rafie vom afghanischen Kulturverein warnte eindringlich vor dem neuen alten Regime. "Die Versprechen, dass die Taliban den Frauen nichts tun werden, sind eine reine PR-Kampagne. Dieser Sinneswandel ist unrealistisch, sie wollen damit nur internationale Anerkennung bekommen." Österreich solle sich schleunigst um eine Evakuierung gefährdeter Minderheiten wie der Hazara sowie verfolgter Aktivistinnen und Aktivisten bemühen, forderte Rafie.

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Auf eine Zahl, wie viele schutzbedürftige Menschen Österreich denn aufnehmen solle, wollte sich an diesem Abend niemand so recht festlegen. "So viele wie möglich" lautete die durchaus dehnbare Devise. Eindeutiger quantifizierbar nahm sich da die einhellige Demo-Forderung aus, wonach niemand mehr nach Afghanistan abgeschoben werden dürfe. "Abschiebung ist Mord" war in dem Zusammenhang oft zu hören und lesen.

"Es wird sicher nicht die letzte Demo für diese Sache sein", rief Herbert Langthaler von der Asylkoordination gegen Ende der Demo vor dem Kanzleramt dem Publikum zu. Der postwendende Applaus der Anwesenden am Ballhausplatz macht ein Abgehen von dieser Ankündigung schwer. (Theo Anders, 19.8.2021)