Die kleine Stadt Arles im Süden Frankreichs hat eine neue Architektur erhalten. Sie hatte davor schon viel Architektur, vor allem alte. Nun hat sie neue Architektur auch, und was für eine. Seitdem der amerikanische Architekt Frank Gehry 1997 dem baskischen Bilbao das Guggenheim-Museum hinstellte und damit quasi die Stadt rettete, spricht man vom so genannten Bilbao-Effekt. Eine Stadt, die alle möglichen Probleme hat, leistet sich ein ungewöhnliches Architekturobjekt und erhofft sich einen positiven Aufschwung für die Wirtschaft sowie ein besseres Leben in der Stadt. In Bilbao scheint es funktioniert zu haben. Die vormalige Industriestadt hatte zu kämpfen, und seit der Eröffnung des spektakulären Museumsbaus strömen Touristen und Touristinnen in die Stadt und lassen ihr Geld dort. Und das kommt dann allen zugute, so hoffe ich zumindest.

Eine "Urban Rolex" als Statussymbol

Eher kritisch Gesinnte nannten das Guggenheim-Museum eine „Urban Rolex“. Eigentlich reicht das Geld kaum, um halbwegs gut zu leben, dennoch leistet man sich ein sehr teures Objekt, eine Rolex eben, Inbegriff des luxuriösen Zeitmessers. Dass mittlerweile Rolex-Uhren gerne auch im zwielichtigen Milieu getragen werden, tut dem Mythos Rolex nichts an. Männer lieben Rolex, vielleicht kann ich deshalb schwer nachvollziehen, warum man eine solche Uhr unbedingt haben muss. Die „Urban Rolex“ in Bilbao hatte dennoch positive Auswirkungen auf die Stadt. Die ehemalige Industriestadt wandelte sich zum Kunstzentrum mit mehr als einer Million Besuchenden pro Jahr. Waghalsige Museumsbauten wie das Guggenheim-Museum eignen sich selten gut für Ausstellungen. Das ist dabei aber zweitrangig. Museen für gute Ausstellungen sind von außen oft langweilig, banal, oder, wenn man es positiv ausdrücken will, klassisch modern, keine Rolex also, sondern eher eine Junghans von Max Bill designt. Kann man immer tragen, ist aber ein bisschen langweilig.

Bilbaos Rolex.
Foto: REUTERS/Vincent West

Der Turm von Arles

Aktuell hat Frank Gehry eben gerade Arles die nächste „Urban Rolex“ verordnet, den so genannten Luma-Tower, ein 56 Meter hoher verknautschter Aluminiumturm, der innen wie außen einer Grottenbahn ähnelt, inklusive gewendelter Rutschbahn. Ob Arles das glitzernde Ungetüm wirklich brauchte, ist zweifelhaft. Der Turm schrammt knapp am Kitsch vorbei, und dies in die falsche Richtung. Hier hat nicht eine schrumpfende Stadt auf ein Glücksmoment gehofft, sondern hat sich vor allem eine Schweizer Milliardärin (Pharmakonzern, nicht Uhren) ein Denkmal gesetzt. Der Turm sticht so penetrant aus der Skyline von Arles, dass der Vergleich mit der Rolex zu zurückhaltend scheint. Er ist eher eine Breitling-Flieger- oder eine Omega-Tauch-Uhr. Man muss nicht fliegen oder tauchen können, um sie zu tragen. Hauptsache, sie protzt. Wie Arles den Turm braucht man auch solche Uhren nicht wirklich. Arles hat ein Amphitheater, einen Obelisken, ein römisches Forum und Kathedralen. Warum also nun einen Turm wie Glitzerleggings mit banalen Erkerfenstern?

Glitzerturm in Arles.
Foto: AFP/PASCAL GUYOT

Ein Alien für Graz: Gute Laune statt Protz

2003 leistete sich Graz als Europäische Kulturhauptstadt auch etwas, ein neues, tolles Stück Architektur in der Stadt, das Kunsthaus aka. Friendly Alien, entworfen von den britischen Architekten Peter Cook und Colin Fournier. Es wurde damals teils vernichtend kritisiert. Auch ich war anfangs skeptisch, wurde dann langsam versöhnlicher gegenüber der Blase mit Rüsseln, und schließlich wurde eine Liebesbeziehung daraus. Vergleicht man das Friendly Alien, wie es nun auch offiziell heißt, mit der Gehry’schen Architektur in Bilbao oder Arles, würde ich in Graz auch nicht von einer „Urban Rolex“ sprechen. Das Kunsthaus ähnelt in seiner Form eher an eine gut designte, einzigartige, fröhliche Swatch. Anstelle eines egomanischen Turms quetscht sich das Kunsthaus mit dunkelblauer Glasfassade zwischen Grazer Altstadthäuser, ragt kaum aus ihnen heraus und scheint einen ständigen Kampf auszufechten: Wer gewinnt, das alte Ziegeldachhaus oder ich? Ich bin auf jeden Fall besser gelaunt, scheint es auszurufen. Architektur, die einen zum Lachen bringt, findet man auch selten. Das Leben ist gerade ernst genug, also auf nach Graz.

Der Maßstab macht es aus, und die Einbettung in das Vorhandene.
Foto: Sabine Pollak
Die Formen wurden kritisiert, dabei ist es bis heute top in Form, das Friendly Alien.
Foto: Sabine Pollak

Gut design für schlechte Ausstellungen

Ich mag das Friendly Alien, und mit der Zeit, immer mehr. In nur zwei Jahren wird es zwanzig Jahre alt sein. Das ist beachtlich, denn es steht frisch und frech da wie im ersten Jahr. Das blaue Glas ist nicht verblichen, die Rüssel der Oberlichter ragen immer noch fürwitzig über die Dächer und die Needle sitzt angenehm fremd wie eh und je über der Mur. Und ja, auch die Ausstellungen im Innenraum sind immer noch genauso schlecht zu organisieren wie im ersten Jahr nach der Eröffnung. Da geht einfach nichts, das kann man getrost zugeben. Zwei Ausstellungen passten wirklich gut in den amorphen Raum ohne gerade Wand. Einmal eine Ausstellung über kinetische Kunst bald nach der Eröffnung. Den Objekten in Bewegung stand der amorphe Hintergrund gut zu Gesicht. Das zweite Aha-Erlebnis war die Ausstellung von Peter Kogler im Jahr 2019 mit raumfüllenden Projektionen und scheinbar endlosen Räumen. Die anderen Präsentationen kämpften eher mit dem Raum. Als Ausstellungsraum eignet es sich also schlecht, aber sich selbst stellt es gut aus. Auch damit reiht es sich tapfer in die weltbekannten Architekturen der Uhren-Metaphern.

Gebogene Glasfassade zwängt sich zwischen Ziegeldachhäuser, eine gute Form der Auseinandersetzung.
Foto: Sabine Pollak
Architektur mit einem dicken Bauch bringt uns zum Lachen. Es soll uns Schlimmeres passieren.
Foto: Sabine Pollak

Gebauter britischer Humor

Warum das Kunsthaus der Stadt Graz so gut steht? Weil es einen ganz anderen Maßstab hat als die großen Brüder in Bilbao und Arles. Weil es so smoothe ist und so lustig aussieht. Weil es einen dicken Bauch hat und sichtlich einen britischen Humor als Hintergrund. Unter all den Bubbles, Blobs und anderen gemorphten Architekturen ist es weitaus das beste finde ich, weltweit. Und außerdem, wer braucht denn noch eine Rolex heutzutage? Die gibt es längst als Imitation um wenig Geld an jeder Ecke. Graz macht nicht immer alles gut in der Stadtplanung, viele neue Gebäude sind heute eher Standard, und die eigenwillige Grazer Schule ist lange vorbei. Aber das, Graz, ist dir damals, im sagenhaften Jahr 2003, richtig gut gelungen! (Sabine Pollak, 27.8.2021)

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