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EU-Erweiterungskommissar Olivér Várhelyi hat bereits einen ersten Bericht an den Rechnungshof geschickt.

Foto: John Thys/Pool via REUTERS

In den vergangenen 15 Jahren hat die EU-Kommission viel Geld ausgegeben, um die Rechtsstaatlichkeit in den sechs Nicht-EU-Staaten in Südosteuropa zu fördern. Es wurde in Infrastruktur, aber auch in politische Vorhaben wie den Überprüfungsprozess der Richter und Staatsanwälte in Albanien investiert. Korrupte Angehörige der Justiz wurden entlassen.

Am erfolgreichsten sind die Reformen in Nordmazedonien, weil die dortige Regierung den politischen Willen dazu hat. Doch ansonsten sind in den sechs Staaten die Entscheidungen der Justiz oft von politischen oder privaten Interessen unterlaufen, die Postenbesetzungen sowieso. Deshalb nimmt der Europäische Rechnungshof gerade eine Überprüfung vor, die zeigen soll, in welchen Bereichen die Versuche der EU, mehr Rechtsstaatlichkeit zu erlangen, erfolgreich waren – und wo eben nicht.

Kritik an unabhängigen Wissenschaftern

Der Prozess ist noch im Gange, doch der Rechnungshof hat bereits einen ersten Bericht an die Generaldirektion für Erweiterungsverhandlungen, geführt von dem Ungarn Olivér Várhelyi, geschickt. Liest man die Bemerkungen, die von der EU-Kommission zurückkamen, ist allerdings ersichtlich, dass die unabhängigen Wissenschafter, die vom Rechnungshof zur Beurteilung herangezogen wurden, nicht unbedingt auf Gefallen stoßen.

So heißt es in dem Schreiben: "Die Kommission soll die Arbeit unabhängiger Wissenschafter nicht direkt kommentieren. Die Kommission würde jedoch gerne wissen, warum diese spezifischen Autoren/Zitate ausgewählt wurden, und stellt fest, dass die Bewertungen nicht mit denen der Kommission übereinstimmen."

Das klingt so, als wären die unabhängigen Wissenschafter der EU-Kommission zu kritisch. Fragwürdig ist aber vor allem, dass die EU-Kommission bestimmen will, welche Experten der EU-Rechnungshof heranzieht. Denn der Rechnungshof ist unabhängig.

Region wurde autoritärer

Im Detail wird auch die Analyse der Wissenschafter von der EU-Kommission abgelehnt, dass etwa die meisten Regierungen in der Region in den vergangenen zehn Jahren autoritärer geworden seien. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass Várhelyi von einer Regierung, nämlich der ungarischen, entsandt wurde, die selbst in den vergangenen Jahren immer undemokratischer und autoritärer wurde und von der die Rechtsstaatlichkeit unterhöhlt wird.

Ungarn hat in Südosteuropa viel Einfluss, die Regierung pflegt enge Kontakte mit autokratischen Figuren wie dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić und dem rechtspopulistischen slowenischen Premier Janez Janša. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán hat sogar dem wegen Amtsmissbrauchs verurteilten rechtsnationalen mazedonischen Ex-Premier Nikola Gruevski Asyl gewährt, nachdem der sich einer Haftstrafe in seiner Heimat entzogen hatte.

Kommission nennt Kritik Missverständnis

Der Rechnungshof kritisiert in seinem ersten vorläufigen Bericht auch, dass im Bereich der Rechtsstaatlichkeit in den sechs Nicht-EU-Staaten in Südosteuropa "der Zivilgesellschaft sowohl im politischen Dialog als auch bei der finanziellen Unterstützung weniger Bedeutung beigemessen wird".

Die Kommission will das allerdings nicht so stehen lassen. Es handle sich um ein Missverständnis, und der Absatz solle umformuliert werden, fordert sie. "Die Beziehungen der Kommission zu Organisationen der Zivilgesellschaft sind nicht dieselben wie die der Kommission zu den nationalen Verwaltungen", wird dies begründet. Denn der Annäherungsprozess erfolge mit der Regierung. "Folglich besteht die Hauptbeziehung der EU mit der Regierung."

Kein Kommentar

Auch diese Äußerung ist vor allem im Zusammenhang mit dem Umstand interessant, dass gerade die ungarische Regierung in der Vergangenheit gegen Organisationen der Zivilgesellschaft vorgegangen ist. Auf Anfrage des STANDARD zu den Anmerkungen der Kommission verweist diese nur darauf, dass das Prüfverfahren des Rechnungshofs noch im Gang sei. "Die Antworten der Kommission werden wie immer in den Bericht des Rechnungshofs aufgenommen", heißt es da lapidar, ohne auf die konkreten Punkte einzugehen.

Wenn man die ersten Kommentare der Kommission liest – der endgültige Rechnungshofbericht soll erst Ende des Jahres erscheinen –, so ist auch auffällig, dass die Kommission bei der Beurteilung der Rechtsstaatlichkeit in Serbien die Wortwahl des EU-Rechnungshofs "aufweicht". Wenn der Rechnungshof beispielsweise in Absatz 65 von dem "negativen Bericht" schreibt, schlägt die Kommission vor, "das Wort 'negativ' aus dem ersten Satz zu streichen".

Ein weiteres Beispiel findet sich in Absatz 132, in dem der Rechnungshof sagt: "Trotz der oben beschriebenen positiven Entwicklungen, zu denen die EU-Unterstützung beigetragen hat, zeichnet die Kommission ein eher düsteres Bild vom Status der Rechtsstaatlichkeit in Serbien." Die Kommission repliziert: "Da sich dieser Absatz auf den eigenen Bericht der Kommission bezieht, empfehlen wir, anstelle des Begriffs 'düsteres Bild' die genauen Zitate zu verwenden."

Vertrauliches Dokument, kein Bericht

Unter dem Paragrafen 133 schlägt die Kommission vor, den Wortlaut des Rechnungshofs "Der politische Einfluss auf die Justiz ist ein anhaltendes und ernstes Problem" in "Der Druck auf die Justiz bleibt hoch" zu ändern. Auf Anfrage des STANDARD zu dem Schreiben des EU-Rechnungshofs und der EU-Kommission weist auch der Rechnungshof darauf hin, dass der endgültige Bericht erst Ende des Jahres veröffentlicht wird. "Während des Überprüfungsprozesses sind die Dokumente nicht öffentlich", so der Rechnungshof.

Bei dem Schreiben, das dem STANDARD vorliegt, handle es sich um ein "vertrauliches Dokument, das vorläufige Feststellungen enthält und unter anderem auf der Grundlage der Antworten der Kommission einer weiteren Überprüfung unterzogen werden kann". Es handle sich also nicht um die endgültige Position des Rechnungshofs.

Keine Leitlinien zur "Suspensionsklausel"

Trotzdem ist die Diskussion zwischen Rechnungshof und Kommission aufschlussreich, etwa wenn es um die sogenannte "Suspensionsklausel" geht. Bei dieser geht es um die mögliche Aussetzung der Beitrittsverhandlungen im Fall schwerwiegender und anhaltender Verletzungen der Grundwerte der EU in den Bereichen Freiheit, Demokratie, Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie Rechtsstaatlichkeit. Bei der Prüfung habe man keine Leitlinien dazu gefunden, wann und wie die Klausel anzuwenden sei, meint der Rechnungshof, etwa im Bezug auf Serbien.

Die Kommission ist damit nicht einverstanden: "Zusammenfassend ist die Kommission der Auffassung, dass derzeit ein ausgewogenes Gesamtverhältnis zwischen rechtsstaatlichen Fortschritten und der Normalisierung einerseits und Fortschritten bei den kapitelübergreifenden Verhandlungen andererseits gewährleistet ist", heißt es. Konkret geht es um den Dialog zwischen Serbien und dem Kosovo, der seit Jahren auf Eis liegt und wo es keinerlei Fortschritte gibt. Doch die EU-Kommission steckt offenbar in einem Dilemma: Wenn sie klar feststellen würde, dass es im Bereich Rechtsstaatlichkeit in Serbien keine Fortschritte gibt und die Verhandlungen ausgesetzt werden sollten, dann dürfte sie in Belgrad auf noch mehr Widerstände stoßen, wenn es um den Dialog mit dem Kosovo geht. Deshalb wurtschelt man offenbar lieber weiter.

Bedenken Bulgariens

Absonderlich ist weiters eine Anmerkung der EU-Kommission zu Nordmazedonien im Paragraf 175: "Bitte buchstabieren Sie den vorläufigen Hinweis 'ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien'", fordert die EU-Kommission den EU-Rechnungshof auf, obwohl der Staat Nordmazedonien als solcher von den Vereinten Nationen anerkannt ist und die Namensfrage längst gelöst ist. "Der Entwurf des Verhandlungsrahmens, der im Rat derzeit erörtert wird, verzögert sich aufgrund bilateraler Bedenken Bulgariens", führt die EU-Kommission aus. Offenbar geht es darum, Bulgarien "entgegenzukommen", indem man auf einen nicht mehr existierenden früheren Namen Nordmazedoniens hinweist.

Das erinnert an ein anderes Geschehnis. In der Generaldirektion Erweiterungsverhandlungen unter Várhelyi – wo es in jüngster Zeit einigen Personalwechsel gab – war im Mai intern massive Kritik zu vernehmen, als der Kommissar plötzlich Albanien den Vorzug geben wollte und die Möglichkeit erwog, ohne Nordmazedonien die Verhandlungen zu beginnen. Nordmazedonien wird zurzeit aus rein nationalistischen Gründen von Bulgarien blockiert, erhält aber viel zu wenig Unterstützung von den EU-Staaten, obwohl es sich um das einzige Land in der Region handelt, dessen Regierung in den vergangenen Jahren glaubhaft Reformen vorangetrieben hat.

Várhelyi wollte im Mai offenbar auf Nordmazedonien Druck machen, auf bulgarische Wünsche einzugehen – dabei geht es um Geschichtsinterpretationen und Sprache. Ein hochrangiger Beamter der EU-Kommission, der anonym bleiben möchte, sagte damals zum STANDARD: "Wir verstehen nicht, was ihn geritten hat, wir haben immer gesagt, und wir werden das auch immer sagen: Nordmazedonien hat alle Kriterien erfüllt."

Regeln auch für Beitrittskandidaten

Insgesamt ist aus dem Rechnungshofbericht herauszulesen, dass man sich mehr "Konditionalität" wünscht, ganz konkret, dass die Verteilung von Vorbeitrittshilfen stärker an Reformen im Bereich Rechtsstaatlichkeit gekoppelt wird. Tatsächlich gibt es die Diskussion darüber seit einigen Jahren. Nun wird aber nicht nur im Bezug auf die Nicht-EU-Staaten darüber diskutiert, ob das Geld nur dann fließen soll, wenn man sich auch an die gemeinsamen Regeln und Werte hält: Die Debatte ist längst in der EU selbst angelangt. Doch Polen, Ungarn und zuletzt auch Slowenien wollen das unbedingt verhindern, weil die Regierungen der drei Staaten den liberalen Rechtsstaat westlichen Modells immer wieder attackieren.

Auch was die sechs Nicht-EU-Staaten auf dem Balkan betrifft, prallt die Kritik des Rechnungshofs ab, dass man "nur begrenzten Gebrauch" von dem Mechanismus gemacht habe. Die Kommission nutze "systematisch die Konditionalität" heißt es da, ohne tatsächlich auf die Kritik einzugehen. (Adelheid Wölfl, 20.8.2021)