Dass Gesundheit unser höchstes Gut ist, wusste man seit jeher. Vor allem in Zeiten, in denen die Möglichkeiten zur Behandlung von Krankheiten noch sehr eingeschränkt waren, galt die gesamte Aufmerksamkeit der Prophylaxe, also der vorsorglichen Krankheitsvermeidung. Das antike Heilwissen ist über die arabische Medizin, die bereits im 10. Jh. n. Chr. eine Hochblüte erlebte, ab dem 12. Jh. ins Lateinische übertragen und so in ganz Europa bekannt geworden. Im Zuge von Übersetzungen in die verschiedenen Volkssprachen fand insofern eine Art Demokratisierung dieses Expertenwissens statt, als es dabei auf ein für Laien verständliches Niveau heruntergebrochen wurde.

So hat man Schriften über die richtige Lebensführung (die sogenannte Regimen sanitatis-Literatur), über Ernährung und Heilpflanzen sowie medizinische Rezepte und Traktate über den Einfluss der Gestirne auf das menschliche Befinden und Schicksal eifrig gesammelt und zu individuellen "Hausbüchern" zusammengestellt. Im Krankheitsfall dienten diese Werke wohl weniger zur Selbstbehandlung als zur Erstinformation darüber, welche Behandlungsmaßnahmen einen erwarteten, wenn sich ein – oft recht schmerzhafter, immer kostspieliger – Arztbesuch nicht vermeiden ließ. Auch wollte man wissen, wie die Chancen auf Heilung standen; darin unterscheidet sich der spätmittelalterliche Mensch nicht wesentlich von uns, denn fast jeder von uns hat wohl schon einmal vorab Doktor Google konsultiert.

Balance der Säfte

Der Schwerpunkt lag jedenfalls einst auf der Vorsorge, und diese wurde zumindest von den Oberschichten sehr ernst genommen: Es galt von Kindheit an, sich selbst zu beobachten und die eigene Konstitution einzuschätzen. Dabei bemühte man sich, die individuell ideale Mischung der (vor allem metaphorisch zu verstehenden!) Körpersäfte Blut, gelbe und schwarze Galle sowie Schleim zu erreichen. Gemäß der Temperamentenlehre (lat. temperare meint "mischen") nahm man dabei auf die Zugehörigkeit zu den vier Charaktertypen der Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker und Phlegmatiker Bedacht. Dieses Wissen bildete die Grundlage für die typgerechte, ja sogar personalisierte Lebensweise, zu der die Wohnumgebung genauso zählte wie das rechte Maß an Schlaf, körperlicher und sexueller Aktivität, die regelmäßige Entleerung des Körpers und vor allem die Ernährung.

Über diese äußeren Faktoren (lat. sex res non naturales) ließ sich die Säftemischung steuern beziehungsweise in Balance halten oder wieder ins Gleichgewicht bringen, wenn einmal eine Störung eintrat. Überhaupt stellte das Maßhalten (mhd. diu mâze) die zentrale Richtlinie für alle Lebenslagen dar, und zwar auch auf ethischer Ebene: Als eine alles zusammenführende und -haltende Kardinaltugend spielte die mâze nicht von ungefähr auch auf dem Lebensweg von Heldinnen und Helden in mittelalterlichen Artusromanen eine tragende Rolle.

Aderlass: Alle Jar czwir Minuere

"Zweimal jährlich zum Aderlass" (lat. minuere = "vermindern"), besagt die zitierte Grundregel der mittelalterlichen Gesundheitsvorsorge, wie sie in einer Grazer Handschrift notiert ist. Der Aderlass war im Mittelalter nicht nur ein oft angewandtes Mittel, um im akuten Krankheitsfall schädliche Stoffe aus dem Körper auszuleiten, sondern um schon vorbeugend ein Ungleichgewicht der Säfte zu beheben. Neben diesem therapeutischen und prophylaktischen Aspekt war der Aderlass eine wichtige diagnostische Maßnahme. Denn bei der Blutschau ‒ das ist die Beurteilung des Blutes vor allem nach Farbe und Konsistenz ‒ wurden Krankheiten aus dem Blut abgelesen. Aus dem Mittelalter sind zahlreiche Gesundheitslehren und Arzneibücher überliefert, in denen sich Anleitungen und Vorschriften für den Aderlass finden. Die heute wohl bekannteste Heilkundige des 12. Jhs., Hildegard von Bingen, widmet dem Aderlass in ihren auf Latein verfassten Causae et Curae (Ursprung und Behandlung der Krankheiten) neun Kapitel.

Grundregeln der Gesundheitsvorsorge, Graz, UB, Ms. 594 (15. Jh.), fol. 41r.
Foto: UB Graz

Aderlässe werden aber auch in poetischen Texten des Mittelalters gelegentlich erwähnt. Ein Beispiel dafür ist eine Episode in Gottfried von Straßburgs Tristan-Roman, der berühmten Liebes- und Ehebruchsgeschichte um Tristan und Isolde. Um die Gerüchte über eine angeblich heftige, von einem irrtümlich eingenommenen Liebestrank verursachte Liebesbeziehung zwischen den beiden zu überprüfen, greift Isoldes Ehemann, König Marke, zu einem ungewöhnlichen Trick: In einem tage er [= Marke] zâder liez, […] und mit im Isôt und Tristan.

König Marke, Isolde und Tristan werden also gemeinsam zur Ader gelassen – eine an sich unverdächtige Maßnahme, denn es war allgemein üblich, sich im Frühjahr (in der Erzählung ist es die Zeit vor Pfingsten) dieser Vorsorgemaßnahme zu unterziehen, und zwar an den ersten Tagen des abnehmenden Mondes. Am folgenden Tag sollte man sich ausgiebig erholen. Das tun sie in einer Art Ruheraum (kemenâte), was dem Ereignis fast den Anstrich einer Wellnessbehandlung verleiht. Bevor König Marke und seine Berater diesen Raum verlassen, um der Frühmesse beizuwohnen, lässt er Mehl auf den Boden streuen. Das soll ihm eine allfällige Untreue verraten. Tristan weiß jedoch um diese Falle und versucht daher, mit einem sportlichen Sprung "spurlos" in Isoldes Bett zu gelangen, aber dabei bricht seine noch nicht verheilte Aderlasswunde wieder auf und verursacht Blutflecken auf der kostbaren Bettwäsche. Isoldes wenig glaubwürdige Erklärung gegenüber Marke, dass ihr eigenes Blut diese Flecken verursacht habe, führt zur Vertiefung von König Markes Zweifeln und letztlich zum tragischen Ende dieser unerlaubten Liebesbeziehung.

In der mittelalterlichen Fachliteratur findet sich eine Vielzahl an – teilweise leicht abweichenden – Regeln für den Aderlass, betreffend etwa das Alter (nicht empfohlen unter 12 Jahren und für sehr alte Leute), Mondphase (die ersten sechs Tage nach dem Vollmond), Jahreszeit (vorzugsweise im Frühling und Herbst). So heißt es zum Beispiel in der Ordnung der Gesundheit für Rudolf von Hohenberg um 1400: Es ist auch ze wissen, das das ader lassen zwuo zeyt hatt in dem jar, in dem es dem leib aller bekommenlichest ist, daz ist am glentz und am herbst. Bezüglich der Menge des abgelassenen Blutes bei einem Gesunden schreibt von Bingen vor: so viel, wie ein starker, durstiger Mann in einem Zug an Wasser trinken kann.

Aderlassdarstellung, London, BL, Add. MS 42130 (1325/1340), fol. 61r.
Foto: London, British Library Board

Worauf beim Aderlass zu achten ist!

Dass man einst einen engeren Zusammenhang zwischen Aderlass und Nahrungsaufnahme sah, verraten einige spezielle Ernährungsvorschriften: Der aderlasser sol nit fressig sein. Übermäßiges Essen sei also schlecht für den Aderlass. Man solle kurz vor dem Aderlass und besonders danach keine Speisen zu sich nehmen, die nach der damaligen Humorallehre den Schleim im Blut vermehren, wie gebratene Speisen, rohes Obst und Gemüse, die laut Hildegard von Bingen schleimfördernd wirken. Denn gerade dieser Schleim sollte durch den Aderlass aus dem Körper entfernt werden, damit er den Menschen nicht krank macht. Starker Wein solle ebenfalls vermieden werden, dagegen sei süßer, leichter Wein erlaubt.

Das Mittelalter kannte verschiedene "Lassstellen", an denen je nach Leiden zur Ader gelassen wurde. Meist wurde dabei auf jener Körperseite Blut abgenommen, an der die Beschwerden auftraten. Dafür wurde mit einem "Lasseisen", der Fliete (mhd. fliedeme), eine Ader eingeschnitten und das herausfließende Blut in einer Schale aufgefangen, um es anschließend zum Beispiel in Hinblick auf Aussehen, Geruch und Konsistenz fachkundig prüfen zu können.

In medizinischen Handschriften finden sich Darstellungen von Aderlassmännchen, die die Lassstellen in Zusammenhang mit den Sternzeichen bringen, und zwar nach dem Ausschlussprinzip: Stand ein bestimmtes Sternzeichen am Himmel, durfte an der zugeordneten Stelle ausdrücklich nicht zur Ader gelassen werden. Für eine gute Verdauung solle man regelmäßig an der Medianader (lat. vena mediana in der Armbeuge) lassen: so man si lasset, so sind si guot für all gepresten der daeung.

Wer möchte, kann den Aderlass heute noch als prophylaktische und therapeutische Maßnahme nützen. Entsprechende Angebote von Kurhäusern und naturheilkundlich orientierten Ärztinnen und Ärzten finden sich im Internet in steigender Zahl. Dort wird die Ader freilich nicht mehr an historischen Aderlassstellen mittels Fliete angeschlagen, sondern – ähnlich wie bei einer modernen Blutspende – in der Armbeuge mit Hilfe einer Kanüle.

Verdauungsbeschwerden: Ir gschach nicht recht – sei liess einn furtz!

Dass die Beachtung der Verdauung im Mittelalter einen sehr hohen Stellenwert einnahm, ist schon an der großen Anzahl von präventiven und kurativen Maßnahmen zu diesem Thema abzulesen. Außer dem regelmäßigen Aderlass wurden in den Gesundheitsregimina spezielle Purgierverfahren (Abführen) wie das Klistieren (Einläufe) oder das therapeutische Erbrechen empfohlen.

Ein anonym gedrucktes Regimen sanitatis Salernitatum aus dem Jahr 1482 nennt den Zweck dieses Gesundheitsbüchleins bereits in der Überschrift: Hie nach volget ain nůtzlich regimentt wer sich dar nach haltet der mag seinn leben lang inn gesundtheitt behaltenn. Die überwiegend diätetischen Ratschläge sind verständlich geschrieben und eigneten sich deshalb besonders für Laien.

Weniger aufwändig und gewiss auch angenehmer einzuhalten waren die Ernährungsempfehlungen der Gesundheitsratgeber. Sie basieren auf der Vier-Säfte-Lehre, wonach für jedes Temperament andere Speisen empfohlen werden, um die Verdauung zu regeln und damit das individuelle Wohlbefinden beziehungsweise die Gesundheit aufrecht zu erhalten. Eine Empfehlung im "Nützlichen Regiment" lautet zum Beispiel:  Also […] sol auch der mensch ee das er zů dem tisch sitzt die natur anzünden vnd sich bewegen vnd ain wil hin vnd her spaciren oder sunst mit ainer messigen arbait üben piß er erwarmet vnd rott wirt vnder dem antlitzt da mit wirt erkücket vnd enzündet die natürlich wirme. vnd der magen wirt begirig vnd lustig vnd die speiß bekompt darnach dem menschen wol. Sie basiert auf der Vorstellung, dass der Magen einem Kochtopf gleiche, in dem die aufgenommene Nahrung erneut gekocht wird, bevor sie in den Verdauungstrakt gelangt. Wie man einen Kochtopf zum Kochen erhitzen muss, sollte daher auch der Magen vor dem Essen durch leichte Bewegung aufgewärmt werden, damit er seine Aufgabe erfüllen kann.

Weiters heißt es: Der mensch sol nit ee die speiß niessen piß er begirig ist vnd der magen sol gerainiget sin von der vordern speiße das ist das er zů stůl gangen si ee er zuo dem andern mal esse, er soll also nicht ohne Hunger essen, zwischen den Mahlzeiten einen zeitlichen Abstand einhalten und sich vor allem bei der Nahrungsaufnahme mäßigen: Der mensch söll mitt lust vff hoeren. das ist das er sich nit füllen sölle als die vnuernüfftigen thier. Dieser Rat ist uns in abgeänderter Form heute noch bekannt: "Man soll aufhören, wenn es am besten schmeckt" – auch wenn das mitunter schwerfallen mag.

Die Einhaltung dieser Grundregeln sollte negative Folgen der Nahrungsaufnahme von Vornherein verhindern, aber es war immer schon bekannt, dass gewisse Lebensmittel wie etwa Kohl blähend wirken. Erfahrene Köche wussten diese unangenehme Wirkung zum Beispiel durch die Gewürze Fenchel und Kümmel zu neutralisieren. Sollte es trotzdem einmal zu Blähungen kommen, warnte übrigens bereits das lateinische Regimen sanitatis (12. Jh.) aus der berühmten Medizin-Universität in Salerno in Spruchform davor, den Darmwind zu unterdrücken, denn das könne schlimme gesundheitliche Folgen nach sich ziehen!

Darmreinigung, Schachtafelen der Gesuntheyt von 1533, Tafel 33.
Foto: UB Graz

Ein Furz, ein Krieg

Dass unvernünftige Ernährung unweigerlich Komplikationen wie Durchfall, Verstopfung oder Darmwinde verursacht, zeigt besonders drastisch Heinrich Wittenwiler in seinem satirischen Versepos Der Ring (circa 1410). Dabei handelt es sich um einen Bauernhochzeitsschwank, in dem Winde immer wieder eine Rolle spielen, ja die massive Missachtung der Gesundheitsregeln beim Hochzeitsmahl zu einer regelrechten Verdauungs-Katastrophe führt. In diese skurrile Geschichte ist sehr viel mittelalterliches Erfahrungswissen eingebettet und zur Steigerung der didaktischen Wirkung meist in Form von Negativ-Beispielen vermittelt.

So verstößt die satirisch überzeichnete Hochzeitsgesellschaft nicht nur gegen sämtliche Tischmanieren, sondern stopft sich gierig voll, wobei die übliche, der Gesundheit zuträgliche Speisenfolge völlig auf den Kopf gestellt wird. Es werden etwa Äpfel, Birnen und Käse als erster Gang serviert, obwohl es doch im gereimten Regimen sanitatis Heinrich Laufenbergs von 1429 heißt: Ze ende der spyse dich do mit labe. Die Regel "Käse schließt den Magen" wird von Gourmets heute noch beherzigt, wenngleich die Begründung nun anders lautet als seinerzeit, wo man annahm, Käse und Birnen würden fettes Essen im Magen niederdrücken, damit es nicht schwymbt empor ("aufschwimmt").

Kein Wunder jedenfalls, dass bei Frau Hüdel (der Name ist Programm, siehe das österreichische "hudeln"), die noch dazu alles hinunterschlingt, bei einer falschen Bewegung eine heftige Blähung hörbar wird. Aus Scham darüber weist sie das als einen Hörfehler der anderen zurück und demonstriert zum Beweis, wie bei ihr ein "richtiger" Furz klingt: Ir gschach nicht recht – sei liess einn furtz! In der solcherart "aufgeheizten" Stimmung kommt es zu einer handfesten Hochzeitsrauferei, die sich über einen Dorfkrieg bis hin zu einer riesigen Schlacht auswächst und am Ende fast zum Weltuntergang führt.

Humorvoller Umgang mit Winden, Boulogne-sur-Mer, Bibl. municipale, ms. 131 (Ende 13. Jh.),fol. 202r.
Foto: Paris, BNF

Iob trahit zentera pantera in nomine patris et filii et spiritus sancti: Zahnzauber statt Zahnbürsten?

Eine unerwartete und für unser heutiges Verständnis eher unübliche Verknüpfung existiert auch zwischen der Ernährung und magischen Sprüchen beziehungsweise Beschwörungen, wie sie aus dem mittelalterlichen Leben nicht wegzudenken waren, darunter solche mit einem Bezug auf die Nahrungsaufnahme. Zu diesen gehörten beispielsweise die sogenannten Fliegenzauber, deren Aufgabe es war, Insekten vom Essen fernzuhalten, denn Fliegen wurden für dämonische Wesen gehalten, die man sich etwa beim Löffeln der Suppe tunlichst nicht einverleiben sollte; davon zeugen indirekt noch einige Fliegensuppenwitze (wie etwa der: "Herr Ober, in meiner Suppe schwimmt eine tote Fliege!" ‒ "So ein Unsinn! Tote Fliegen können doch gar nicht schwimmen!"). Gegen Zahnschmerzen und Karies wurden Zahnzauber gesprochen, wobei diese aber nicht als Ersatz für eine allgemeine Zahnhygiene dienten. Es lassen sich nämlich bereits im 10. Jahrhundert im arabischen Raum Vorläufer unserer heutigen Zahnreinigungsmittel nachweisen und auch in unserem Kulturraum gibt es Aufzeichnungen über Maßnahmen zur Erhaltung und Pflege der Zähne, etwa durch folgende Empfehlung in der Ordnung der Gesundheit (um 1400): Den mund und die zen sol man rain wáschen und nuitz unrains da enzwischen lassen, wann es verderbt die zen und macht ain schmeckenden (= stinkenden) átem. Die Benützung eines leini tůch, das rösch sey (= ein raues Leinentüchlein), zum Abreiben der Zähne war obligatorischer Teil der Morgentoilette.

Der Zusammenhang zwischen Zahngesundheit und Nahrungsaufnahme war also damals schon bekannt, aber auch mit regelmäßiger Zahnpflege ließ sich Karies oft trotzdem nicht vermeiden. Von den Schmerzen konnte einen dann nur noch der Bader als sogenannter Zahnbrecher befreien.

Ultima ratio bei Karies, London, BL, Royal 6 E VI (1360/1375), fol. 503v.
Foto: London, British Library Board

Vor diesem ultimativen Gang zum Bader versuchte man es gerne noch mit der Kraft von magischen Sprüchen, wie sie zum Beispiel im Admonter Bartholomäus überliefert sind. Das Arzneibuch aus dem 15. Jh. steht im Mittelpunkt des Literaturpfads im steirischen Admont. Es beinhaltet Rezepte, medizinisches Wissen und Methoden zur Behandlung unterschiedlichster Krankheiten. Darunter finden sich neben medizinischen Rezepten gegen Zahnschmerzen und Zahnfleischentzündungen auch zwei Zahnzauber gegen Schmerzen und Zahnwürmer alias Karies, die man sich in Admont bei der letzten Literaturpfad-Station über einen QR-Code sogar direkt vorlesen lassen kann:

fúr den zand we: Ob ainem die zend we tuent / Der haiss im ainen hueff nagel machen / durch sand Iob / vnd sprich disew wort / vnd slach den nagel in das leczt wórt / vnd sprech fúnf pater noster vnd Aue maria / Iob trahit zentera pantera in nomine / patris / et / filii / et / spiritus / sancti

[Übersetzung: Gegen den Zahnschmerz: Wen die Zähne schmerzen, der lasse sich einen Hufnagel im Namen des Heiligen Hiob anfertigen und spreche folgende Worte, wobei er beim letzten Wort den Nagel einschlägt und abschließend fünf Vaterunser und Avemaria spricht: „Hiob zieht ‚zentera pantera‘ im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“.]

Hinter solchen Sprüchen steckt die Wunschvorstellung, eine dämonische Kraft, die im Körper Böses bewirke, mit Gottes Hilfe schwächen oder gar vertreiben zu können, in Analogie zum biblischen Hiob, der ebenfalls von schweren Leiden geplagt und glücklich befreit wurde.

Diese alte Vorstellung, dass böse Kräfte oder Teufel die Zähne schädigen, ist aber auch in der Gegenwart nicht ganz unbekannt. Noch immer erzählen Geschichten, Lieder oder Kinderfilme von bösen Zahnteufeln: Ein besonders nettes Beispiel ist das "Kinderlied" Hacki Backi, das von genau einem solchen Kariesteufel handelt, der mit dem früheren Zahnwurm eng verwandt zu sein scheint. Damit sollen Kinder zum Zähneputzen animiert werden, wobei man ihnen heute meist zugleich die Auswirkung von zu viel zuckerhaltiger Ernährung verständlich macht. Das verweist indirekt auf den Grundsatz, sich ausgewogen zu ernähren, indem man das rechte Maß einhält – ein Denkprinzip, das in der gesamten mittelalterlichen Ernährungslehre von zentraler Bedeutung war.

Resümee

Die hier zum Besten gegebene Trias aus "Aderlässen, Winden und Zahnbeschwörungen" stellt nur einen Ausschnitt von Themenfeldern dar, die im Bereich zwischen historischem Fachschrifttum, Magie und Dichtung über die Zeiten hinweg zugleich kuratives und diätetisches Wissen transportiert haben. Als abrundendes Beispiel sei noch kurz das Thema "Fasten" erwähnt: Insbesondere das Intervallfasten, das heute auf der Basis modernster molekularbiologischer Erkenntnisse zur Gewichtsregulierung und obendrein als bestes Anti-Aging-Mittel propagiert wird, war im Grunde schon im Mittelalter gang und gäbe: Angesichts des bis in die Antike zurückreichenden Erfahrungswissens der Gesundheitsregeln, aber auch gemäß eigenen Erfahrungen galt im Mittelalter die Beschränkung auf zwei Mahlzeiten pro Tag (beziehungsweise an Fasttagen gar nur eine einzige) nicht bloß als eine religiöse Übung, sondern war Teil eines ernährungstechnischen Basiswissens. Als ähnlich zielführend erweisen sich heute weitere grundlegende Gedanken: Dazu zählt vor allem das von Generation zu Generation weitergereichte Wissen über eine saison-, alters- und typgerechte Ernährung.  

Freilich: Aus heutiger Sicht scheint beileibe nicht mehr alles ratsam oder nachvollziehbar, was in alten Schriften an Ernährungstipps zu finden ist. Um aber möglichst viel davon auszuschöpfen, lohnt sich immer wieder ein ebenso kritischer wie neugierig ernsthafter Blick auf die Quellen. Unter einem ganzheitlich heilkundlichen Aspekt wird dies vor allem von der jüngst erstarkten Traditionellen Europäischen Medizin (TEM) geleistet, die im Verbund mit vielen Disziplinen versucht, gleichsam das Best-of des alten Wissensschatzes für Menschen des 21. Jahrhunderts wieder nutzbar zu machen. (Andrea Hofmeister, Wernfried Hofmeister, Julia Kaspar, Rebecca Wallner, Kathrin Stalujanis, 8.9.2021)

Dieser Beitrag ist im Sommersemester 2021 im Rahmen eines mediävistischen Modulseminars am Grazer Institut für Germanistik entstanden, das sich einerseits mit fachliterarischen Schriften des Mittelalters beschäftigte und andererseits nach Spuren heilkundlichen Fachwissens in der deutschsprachigen Dichtung fahndete. Der zugegebenermaßen heterogene Themenmix aus "Aderlass" (von Julia Kaspar), "Wind" (von Rebecca Wallner) und "Zahnbeschwörung" (von Kathrin Stalujanis) ist durch die individuelle Spezialisierung der beteiligten Studierenden bedingt. Dennoch sind alle drei Bereiche durch den Aspekt des Ernährungsbezugs miteinander verbunden.

Weitere Beiträge im Blog