Oft werden in der Diskussion über Flüchtlinge geopolitische Faktoren wie Krieg, Armut und Elend verdrängt.

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Appell an die Angst

Wenn es um die Situation von Menschen in Flüchtlingslagern geht, ist die Kommunikation der Aufnahmegegner stets darauf ausgerichtet, den Fokus der Debatte zu verschieben. Die öffentliche Aufmerksamkeit soll von realen, gegenwärtigen Problemen der Flüchtlinge zu potenziellen, zukünftigen Gefahren für die österreichische Bevölkerung gelenkt werden.

In der Diskussion nach dem Brand in Moria schien kein Wort dramatisch genug, um die drohende Gefahr zu illustrieren: Würden ein paar Kinder aufgenommen, führe dies zu "Destabilisierung", "Kettenreaktion", "Flächenbrand" etc. Wieder und wieder wurden die gleichen Worte gewählt, um an die Angst der Österreicher und Österreicherinnen zu appellieren. Der Zweck solcher Rhetorik ist offensichtlich: Wer sich selbst fürchtet, wendet sich ab.

Flüchtling/Migrant

Für den Verlauf der Debatte ist entscheidend, wie die Menschen, um die es geht, bezeichnet werden. Deswegen sprechen Aufnahmegegner stets von "Migranten", beinahe nie von "Flüchtlingen". Letzterer Begriff könnte schließlich vermitteln, dass es sich um Menschen handelt, die Hilfe bedürfen.

Nun ist "Migrant" formal nicht falsch: Wer in einem Flüchtlingslager festsitzt, hat Staatsgrenzen überschritten mit dem Ziel, sich dauerhaft in einem anderen Land niederzulassen. Insgesamt ist der Begriff jedoch irreführend: erstens weil all jene, die tatsächlich Recht auf Asyl hätten – also per definitionem Flüchtlinge sind –, unerwähnt bleiben.

Zweitens weil es sich um Menschen handelt, die ihr Leben riskiert haben, um nach Europa zu kommen, und nun zu Tausenden in Lagern zusammengepfercht werden. Die formalistische Bezeichnung "Migrant" blendet diese Realität aus und bedeutet einen Startvorteil der Aufnahmegegner in Sachen Deutungshoheit.

Gutmensch

Um ihren Widerpart zu schwächen, greifen Aufnahmegegner auf eine bewährte Übung aus dem Handbuch für rechte Demagogen zurück: Stichwort "Gutmensch". Wer für die Aufnahme von Flüchtlingen eintrete, sei naiv, denke kurzfristig und setze auf Moral und Emotion statt auf Vernunft. Den "Moralisierern" ginge es nur darum, ihr Gewissen zu beruhigen.

Ziel dieser Argumente ad hominem: Wer für die Aufnahme von Flüchtlingen eintritt, soll als nicht ernst zu nehmen diskreditiert werden.

Hilfe vor Ort

Spätestens seit 2015/16 ist die "Hilfe vor Ort" das Mantra österreichischer Flüchtlingspolitik. Ihre zentrale Funktion: rhetorischer Schutz gegen den Vorwurf, nichts zu tun. Die tatsächlichen Leistungen Österreichs entlarven die propagierte "Hilfe vor Ort" als Maskerade:

  • An das UNHCR überwies Österreich 2020 zehn Millionen Dollar. Vergleichbare Länder wie die Schweiz (42 Millionen), Dänemark (97 Millionen) oder Schweden (125 Millionen) zahlten ein Vielfaches.
  • Bei der UN-Welthungerhilfe liegt Österreich mit 4,5 Millionen Dollar hinter Staaten wie Mosambik oder Bangladesch auf Rang 40 der Geber. Im Vergleich mit der Schweiz (94 Millionen), Dänemark (56 Millionen) oder Schweden (196 Millionen) ein mickriger Beitrag.
  • Für humanitäre Hilfe zahlte Österreich 2019 pro Kopf 3,8 Euro. Deutschland leistete 26,4 Euro, Dänemark 63,3 Euro. Der EU-Schnitt beträgt 11,9 Euro.

Die Tradition leerer Versprechungen, wie sie diese Zahlen dokumentieren, wurde nach dem Brand in Moria fortgeführt. "Hilfe vor Ort" war das Schlagwort, um Hilfsbereitschaft zu markieren. Substanziell geleistet wurde wenig: Kurz nachdem Griechenland mehrere Hundert Tonnen Hilfsgüter nach Beirut entsandte (als Soforthilfe für die Explosionskatastrophe), machten sich der Innenminister und sein Fotograf auf, um 55 Tonnen Zelte und Hilfsgüter nach Athen zu begleiten.

Bekanntermaßen verblieben diese wochenlang am Flughafen. Der Außenminister versprach, eine Kinderbetreuungsstätte zu errichten. Diese steht bis heute nicht. Als hilfreich einzustufen bleiben damit zwei Millionen Euro, die Österreich als Soforthilfe bereitstellte.

In Folge der öffentlichen Debatte wurden Monate später die Mittel für den Auslandskatastrophenfonds auf 50 Millionen Euro verdoppelt. Die Regierung stellt für humanitäre Hilfe damit circa so viel Geld zur Verfügung, wie sie 2020 für Inserate in Krone, Österreich und Heute ausgegeben hat.

Phrasen und Probleme

"Menschen aufzunehmen löst das Problem nicht", ist eine relativ neue Phrase, mit welcher der vermeintlich rationale Zugang der Aufnahmegegner betont werden soll.

Nach dem Brand in Moria wiederholten die Landeshauptleute Niederösterreichs und der Steiermark, der Außen- sowie der Finanzminister die Worte so gleichlautend, dass man beinahe den Eindruck gewinnen konnte, es wurde gemeinsam geübt.

Die implizite Logik der Aussage: Zuerst müsse "das Problem" gelöst werden – also die Situation in den Lagern bzw. Fluchtbewegungen nach Europa per se –, erst danach könne eine etwaige Aufnahme in Betracht gezogen werden.

Der kleine Fehler in dieser Darstellung der Handlungsmöglichkeiten ist natürlich, dass es sich hier um keinen Fall von Entweder-oder handelt: Es könnten parallel Fluchtursachen bekämpft, die Lebensumstände in den Lagern verbessert und die Schutzbedürftigsten evakuiert werden. Indem jedoch verallgemeinernd "das Problem" zur Priorität erklärt wird, werden die konkreten, existenziellen Probleme der Flüchtlinge beiseitegewischt. Gernot Blümel sprach gar in der Mehrzahl und sagte: "Wir lösen keine Probleme, wenn wir Migranten nach Wien holen." Eine Diktion, als wären die Menschen in den Elendslagern nicht existent.

Die rhetorische Vorgehensweise veranschaulicht, wie die tatsächlich Betroffenen – die Flüchtlinge in den Lagern – aus der Debatte gedrängt werden sollen. Wie die "Hilfe vor Ort" ist die Phrase in erster Linie eine Ausrede, nichts zu tun. Was im Übrigen auch keine Probleme löst.

Pragmatischer Realismus

"Wir handeln vernunftgeleitet, die anderen nicht." Die Redeweisen der Aufnahmegegner sind durchgängig auf diese Darstellung der Debatte ausgerichtet. Hier "pragmatischer Realismus" (© Alexander Schallenberg), dort Emotion, Naivität, Kurzsichtigkeit. Wir dürften uns nicht "von Emotionen leiten lassen"; wir müssten die Diskussion "rationalisieren"; es gelte, einen "kühlen Kopf zu bewahren" etc.

In der Praxis bedeutet "pragmatischer Realismus" zwar, dass Zelte geschickt werden, die niemand braucht. Doch als rhetorische Strategie geht er voll auf. Dass eine Mehrheit den Kurs der Regierung unterstützt, liegt nicht zuletzt daran, dass selbst die Evakuierung von ein paar Kindern als unvernünftig dargestellt wird. Die Aufnahmegegner knüpfen dabei erfolgreich an den populären Anti-Political-Correctness-Diskurs an. In diesem erscheinen Moral, Empathie und Menschlichkeit geradezu als Antagonismus zu Vernunft und Realitätssinn. Es ist heute nicht mehr selbsterklärend zu sagen: Man lässt Kinder nicht im Dreck verkommen. Oder: Man lässt Menschen nicht ertrinken.

Wer dies für verhandelbare Positionen hält, ist kein hartherziger Zyniker. Er hat lediglich einen "pragmatisch-realistischen" Blick auf die Welt. Ein Blick wohlgemerkt, der sich von den Notleidenden abwendet und ausschließlich auf sich selbst schaut.

Pull-Effekt

Der vielbeschworene "Pull-Effekt" fungiert als Hauptargument gegen jegliche Aufnahme schutzsuchender Menschen. Nicht wenige der "pragmatischen Realisten" behandeln ihn gleich einem Glaubenssatz: Nur ja niemanden ins Land lassen! Schon ein paar Kinder ziehen eine Kettenreaktion nach sich! Die nächsten Migranten machen sich umgehend auf den Weg!

Demgegenüber ist festzuhalten, dass der Pull-Effekt wissenschaftlich nicht erwiesen ist. Inspiriert wurde der Begriff vom Push-Pull-Modell der Migration aus den 1960ern. Mittlerweile längst überholt, beschäftigt sich dieses Modell mit Faktoren, die Menschen aus einem Gebiet "wegdrücken" (push) bzw. in Richtung eines anderen Gebietes "anziehen" (pull). Doch selbst wenn es veraltet ist: In dem Modell geht es um ein Zusammenspiel beider Faktoren.

Die Pull-Effekt-Prediger verlieren kein Wort über Push-Faktoren und suggerieren, man könne mit rigider Abschreckungspolitik die Flucht nach Europa verhindern. Einmal mehr wird die Situation der Flüchtlinge (Push-Faktoren wie Krieg, Armut, Elend) aus der Debatte gedrängt.

Symbolpolitik

Wer Menschen aufnehmen will, betreibt gemäß den "pragmatischen Realisten" nur Symbolpolitik: Das Problem werde nicht gelöst, es ginge nur um das Setzen eines populären Zeichens etc.

Die Pointe: Die Aufnahmegegner setzen selbst voll und ganz auf Symbolpolitik. Nach dem Brand in Moria wurde die fürchterliche Situation der Menschen auf Lesbos zwar anerkannt – wichtiger war jedoch das "Signal", welches eine Aufnahme aussenden würde.

Die Menschen im Dreck, die Kinder ohne Dach überm Kopf, die weinenden Mütter – sie liefern die "hässlichen Bilder, ohne die es nicht gehen wird"; sie sind ein Symbol der Abschreckung für die armseligen Gestalten in der Ferne, die Richtung Europa drängen.

Das Leid ist kalkuliert, die Logik brutal: Die Flüchtlinge müssen geradezu in den Lagern gehalten werden. Von den Rändern Europas darf es keine positiven Nachrichten nach draußen geben. Sie wären nur eine Aufmunterung zum Aufbruch.

Überfremdung

Die "pragmatischen Realisten" sehen es klar: Fakten oder stichhaltige Argumente sind überbewertet. Im Kampf um die Deutungshoheit ist es entscheidend, mit den eigenen Redeweisen an populäre Narrative anschließen zu können.

Die Warnungen vor einem Pull-Effekt zeigen Wirkung, weil sie nahtlos an etablierte Bilder anschließen können: Das Boot ist voll, Zuwanderung ist massenhaft, die Belastungsgrenze ist erreicht, wir sind Fremde im eigenen Land, Ausländer bringen Kriminalität/ Gewalt/Terror etc.

Die Redeweisen von Problemen verursachenden, ins Land strömenden Fremden sind so beängstigend wie zahlreich. Und wir hören sie seit ... immer schon. Wer in deren Fahrwasser vor "Kettenreaktion" und "Destabilisierung" warnt, darf mit breiter Resonanz rechnen. Dazu noch ein Verweis auf die Gewalttätigkeit jener, die da kommen, und beinahe erübrigt sich jede Diskussion. (René Rusch, ALBUM, 21.8.2021)