Eduard Suess als weiser Gelehrter im hohen Alter.
Foto: Geologische Bundesanstalt

Vor 190 Jahren wurde Eduard Suess in London geboren. Nach einer Kindheit in Prag kam er nach Wien und wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer der prägendsten Gestalten der Wissenschaften und der Stadt. Seine "Erinnerungen" (1916) sind heute noch lesenswert, sie enthalten auch emotionale Momente seines Lebens.

Eduard Suess verstarb am 26. April 1914 in seiner Wohnung in Wien-Leopoldstadt (Afrikanergasse 9). Zwei Jahre danach gab sein Sohn Erhard die "Erinnerungen" heraus. Seine Autobiographie enthält die Meilensteine der ungewöhnlichen Karriere eines der einflussreichsten Wissenschaftlers des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sein erfolgreiches Engagement für die Erste Wiener Hochquellenleitung gehört zu seinen wichtigsten Errungenschaften. Suess, der nie promovierte, wurde 1857 zum unbesoldeten a.o. Professor für Paläontologie und 1862 zum a.o. Professor für Geologie (1867: Ordinarius) ernannt. Er war von September 1888 bis März 1889 Rektor der Universität Wien und von 1898 bis 1911 Präsident der Akademie der Wissenschaften.

In der Afrikanergasse 9 in Wien-Leopoldstadt lebte Suess viele Jahre bis zu seinem Tod.
Foto: Thomas Hofmann

Prag: Drei Sprachen in der Jugend

Geboren wurde Eduard Suess am 20. August 1831 in London (Duncan Terrace 4), wo sein Vater ein Wollgeschäft besaß. Klein Eduard hatte eine zwei Jahre ältere Schwester, Louise, und eine zwei Jahre jüngeren Bruder, Friedrich. Er schreibt in ungewohnter Offenheit: "Ich war ein sehr schlimmer Junge". 1834 übersiedelte die Familie nach Prag, in die Heimat seiner Großeltern mütterlicher Seite (geb. Zdekauer). Hier erinnert er sich an die Taufe seines Bruders Emil (1834–1872): "… bei welcher ich mich so ungeberdig [sic!] benahm, daß man mich auf den grünen Balkon hinausschaffte."

Selbst in Prag gab es bei Familie Suess eine englische Gouvernante, "Miß Gretten". Im Elternhaus wurde weder deutsch noch tschechisch gesprochen. "Wir waren ganz englische Kinder und verstanden kein deutsches Wort." Ihr folgte ein englischer Hauslehrer, "Augustus Thurgar aus Norwich". Eduard, damals fünf Jahre, und Thurgar, ein Mittzwanziger, verstanden sich gut. Als er den Knaben fragte: "Teddyboy, willst du ein Gentleman werden?" antwortete Eduard: "Oh yes!", ohne allerdings zu wissen, was das zu bedeuten hatte. Erst mit sieben Jahren lernte er von einem anderen Hauslehrer Deutsch. Vor dem Eintritt in das Gymnasium sollte er noch Französisch lernen, zunächst von einer "Madmoiselle", wie er schreibt, dann von einem alten Belgier. "Er war der Rest der grande armée."

Übersiedlung nach Wien und Berufsentscheidung

1845 übersiedelte Familie Suess nach Wien. Eduard besuchte ab Oktober das Akademische Gymnasium, ehe er das Polytechnikum, die heutige TU Wien, besuchte. Seine Studien wurden durch das Revolutionsjahr 1848 unterbrochen, wo er als 16-jähriger Student aktiv beteiligt war und der Akademischen Legion beitrat. Resümierend blickt er zurück: "Die Studien waren anregend", doch seine wahre Erfüllung hatte er nicht gefunden: "Wenn ich in meiner Kindheit schon die Leere der Gymnasien empfand, so fühlte ich dann um so schmerzlicher, daß die Technik bloß praktisches Brotstudium sei und daß selbst die vielgerühmte Mathematik wohl Scharfsinn und Erinnerung schärft, aber alles übrige kalt läßt. Ich dränge mich umso fester an eine Wissenschaft."

Suess entdeckte im Zuge eines Aufenthalts in Prag (1849), wo ihn die Fossilien im dortigen Museum ganz in ihren Bann zogen, seine wahre Passion: "Der Anblick der Reste einer längst vergangenen Meeresbevölkerung, der Gedanke an die gewaltigen Veränderungen, die das Land erlitten, und das Bewußtsein, daß der Schlag meines Hammers ein Gebilde entblößen mag, welches kein Sterblicher vor mir gesehen, ergriffen meine Phantasie so völlig, daß die Aufmerksamkeit für andere Studien kaum festzuhalten war, ..."

Gerüstet fürs Leben: Frühe Arbeiten im Museum

In Wien wurde er zum Autodidakten, zumal es damals hier keine universitäre Ausbildung im Bereich der Geowissenschaften gab. Dazu Suess: "[Hier] wendete ich mich meinen Lieblingsstudien in dem Hofmuseum (heute: Naturhistorisches Museum) und der geologischen Reichsanstalt (heute: Geologische Bundesanstalt) zu." Ehe Suess 1857 zum unbesoldeten a.o. Professor für Paläontologie ernannt wurde und 1862 an die Universität Wien wechselte, war er am k. k. Hofmineralienkabinett (heute: Naturhistorisches Museum) beschäftigt. Er profitierte von seinen Sprachkenntnissen. "Ein junger Mann, der einen englischen oder französischen Briefwechsel fließend zu führen wußte, war zu jener Zeit in Wien so selten, daß man mir gerne diese oder jene Arbeit übergab." Die Arbeit in den Sammlungen empfand er gewinnbringend: "Die laufende Vervollständigung der Kataloge der Bibliothek und der Sammlungen hat meinem Gedächtnisse Literaturkenntnisse und Namen eingeprägt, deren Beherrschung mir später von größtem Vorteile war." Mit anderen Worten: Suess war gerüstet für Größeres.

Karrieredurchbruch 1862: Der Boden der Stadt Wien

Im Frühjahr 1862 machte Suess mit dem Buch "Der Boden der Stadt Wien nach seiner Bildungsweise, Beschaffenheit und seinen Beziehungen zum bürgerlichen Leben: Eine geologische Studie" (Braumüller) auf sich aufmerksam. Diese Geologie Wiens machte Suess in der Öffentlichkeit bekannt. Er wies darauf hin, dass die Kontamination der Hausbrunnen durch nahe gelegene Friedhöfe der Grund für Erkrankungen war. "Es war die Drainage der Leichenhöfe, welche nach einem kurzen Lauf der Bevölkerung […] als Trinkwasser geboten wurde." Als die Stadtväter Wiens bei der Frage der Wasserversorgung eine Kommission bildeten, wurde Suess als Kommissionmitglied eingeladen. Bürgermeister Andreas Zelinka (1802–1868) berief ihn 1863, "ohne Gegenkandidat", in den Wiener Gemeinderat, womit die politische Karriere von Suess begann, die ihn von 1873 bis 1897 auch in den Reichsrat führte.

1873: Eröffnung der Wiener Hochquellenleitung

Feierliche Eröffnung der Hochquellenleitung am 24. Oktober 1873 am Schwarzenbergplatz.
Foto: Wien Museum / Online Sammlung

Dass Suess als geistiger Vater der Wiener Hochquellenleitung gilt, die am 24. Oktober unter Anwesenheit des Kaisers am Wiener Schwarzenbergplatz eröffnet wurde, ist bekannt, weniger bekannt sind die bangen Momente, die Suess damals die Schweißperlen ins Gesicht trieben. Er sollte, so wollte es Bürgermeister Cajetan Felder (1814–1894), durch das Heben eines weißen Tuches das Signal zum Öffnen des Hahnes geben, und damit des Hochstrahlbrunnens. "Aus dem runden Becken, das noch heute besteht, sollte […] der Strahl der lebendigen Alpenquellen sich unter ihrem vollen Drucke erheben." Suess hob das Tuch. "Die Augen der Menge sind auf die Mitte des Wasserbeckens gerichtet: es ist nichts. Eine peinliche Pause." Er begann wohl zu schwitzen. "Nach einigen Minuten wiederhole ich das Zeichen: Wieder nichts. Eine noch peinlichere Pause. Eine, zwei, drei Minuten. Ich beginne die Pulse an meinen Schläfen zu verspüren." Suess mag sich jetzt wohl gewünscht haben, ganz tief in den Erdboden zu versinken, und war eben im Begriff, ein drittes Mal das weiße Tuch zu heben – was hätte er auch sonst tun sollen? –, "zeigte sich ein Aufsprudeln an der Mündung des Steigrohres". Langsam wurde daraus eine hohe Fontäne, die "alle Häuser übersteigend, 40 bis 50 Meter" in die Höhe schoss. Suess, und wahrscheinlich nicht nur ihm, müssen Unmengen von Steinen vom Herzen gefallen sein. Felder führte Suess zum Kaiser, der "äußerst gütige Worte der Anerkennung" sprach und schließlich sagte: "Ich danke Ihnen."

Ende gut, alles gut, nach der Ersten Hochquellenwasserleitung wurde am 2. Dezember 1910 die Zweite Hochquellenwasserleitung eröffnet. Die Suess'sche Idee, reines Karstwasser zur Versorgung Wiens herzuleiten, hatte Schule gemacht und wurde auch in anderen Städten umgesetzt.

Wiener Kleingeist auf der Cheops-Pyramide

Suess hatte in seinem reichen Leben nicht nur große Begegnungen. Er musste sich auch mit Kleingeistern herumschlagen. Dazu eine Episode aus Ägypten: Suess war einer der Teilnehmer der österreichischen Delegation, die unter Führung des Kaisers im Herbst 1869 zur Eröffnung des Suezkanals geladen war. Am 21. November machte man einen Abstecher zur Cheops-Pyramide. Ist heute das Besteigen der Pyramiden absolut verboten, war es damals noch für alle möglich. Dass man auch kleine Steinproben von der Pyramide mitnahm, war üblich und für Geologen nahezu "Pflicht". Derartige historische Belege finden sich heute noch in den Sammlungen des Naturhistorischen Museums.

Gesteinsprobe der Pyramiden von 1863 mit Nummuliten. Die einzelligen Fossilien wurden im Volksglauben als versteinertes Geld der Pyramidenarbeiter bezeichnet.
Foto: Thomas Hofmann

Einheimische wiederum sahen hier die Möglichkeit für ein Bakschisch (Trinkgeld). "Araber drängten sich heran, um uns über die treppenförmig ansteigenden Quaderschichten zu helfen; je drei Mann wurden uns zugeteilt." Doch der damals 38-jährige Suess war sportlich unterwegs. Er benötige deren Hilfe nicht und war rascher, als er selbst erwartet hatte, oben. Die einzigartige Fernsicht von der 139 Meter hohen Pyramide hatte ihn ganz in Beschlag genommen. "Ich schaute. Ich wollte mit größeren Gedanken über die Geschichte der Menschheit mich füllen für mein ganzes Leben." Plötzlich wurde er an der Schulter angetippt von einer Person, die er als "Herr Hofrat" bezeichnete. "Sie, sagte er, was habens denn den Leuten als Trinkgeld gegeben?" Suess nannte einen kleinen Betrag, worauf besagter "Hofrat" antwortete: "Aber das war nicht kollegial von Ihnen; Sie verderben die Leute …" Offenbar war dem "Hofrat" der ohnehin kleine Obolus von Suess zu hoch gegriffen. Damit war Schluss mit philosophischen Gedanken; Suess war ernüchtert. "Vorüber war’s, zerrissen mein Traum; ich hätte weinen mögen über die Fluten des erbärmlichen Alltages, die heraufspülten bis auf diese weihevolle Stelle." Dass Suess diese Episode sogar in seinen Memoiren erwähnte, zeigt, wie sehr ihn dieser wienerische Kleingeist in Afrika getroffen hatte.

Ein ewig Lernender

Die englische Ausgabe von Eduard Suess' Opus Magnum "Das Antlitz der Erde".
Foto: Thomas Hofmann

Als sich Suess aus dem öffentlichen Leben zurückzog, war er voll Demut. Am 13. Juli 1901 erfolgte seine Abschiedsvorlesung: "Als ich Lehrer geworden war, habe ich nicht aufgehört, ein Lernender zu bleiben, und jetzt, da ich aufhöre ein Lehrer zu sein, möchte ich auch nicht aufhören ein Lernender zu sein, so lange meine Augen sehen, meine Ohren hören und meine Hände greifen können." Am 29. Jänner 1904 schrieb er an Josef Freiherr von Doblhoff-Dier (1844–1929), der ihn eingeladen hatte: "Ich gehe fast nie abend aus u. bin in weiten Kreisen dadurch zu solchem Maaße ein Fremder geworden, daß ich nicht vor langer Zeit, als ich im wiss. Club zu thun hatte, dort etwa fünfzehn Herren, offenbar Mitglieder, antraf, von denen ich keinen einzigen kannte u. auch kein einziger mich gekannt hat. Ich wiederhole daher meinen herzlichsten u. verbindlichsten Dank. Ich habe das öffentl. Leben verlassen, um meine letzten Lebensjahre der Arbeit widmen zu können, und bitte recht sehr, mich bei dieser Arbeit zu lassen, und mir die Ablehnung nicht zu verübeln."

Wenn es um die hier erwähnte "Arbeit" geht, meint Suess die Herausgabe seines Lebenswerkes, "Das Antlitz der Erde" (3 Bände, 1883 bis 1909), das auch ins Englische (The Face of the Earth) und Französische (La Face de la Terre) übersetzt wurde. Dass Suess, nicht zuletzt aufgrund seiner Sprachkenntnisse, die Qualität der Übersetzung zu beurteilen wusste, ist anzunehmen. (Thomas Hofmann, Mathias Harzhauser, 21.8.2021)