Saniert von Chipperfield: Die Neue Nationalgalerie war immer schon schön, jetzt ist sie noch schöner.

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Der Minimalist Mies schuf mit der Landschaft verbundene Räume.

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Sie sei ein Tempel, eine Ikone, das letzte Bauwerk des großen Ludwig Mies van der Rohe, und mit ihrer minimalistischen Architektur aus Stahl und Glas zugleich "beinahe Nichts". Sechs Jahre lang war die Neue Nationalgalerie am Berliner Kulturforum geschlossen. Jetzt eröffnet das von David Chipperfield sanierte Schlüsselbauwerk der westlichen Moderne mit drei großen Ausstellungen.

Von der so vielbesungenen gerasterten Stahldecke der oberen Halle, die Mies van der Rohe immer schon als eine Bühne für die Kunst geplant hat, hängen filigrane, monochrome Mobiles des Bildhauers Alexander Calder herab, die sich wie vergrößerte Farbkleckse von der Leinwand gelöst zu haben und nun im Raum zu schweben scheinen. Rundherum hallenhohe Glasflächen, lediglich gehalten von feinen Stahlrahmen, als gäbe es keine Wand, als gäbe es keine materielle Barriere.

Für solch eine Raumwirkung des "beinahe Nichts" zur Mittwochvormittag wiedereröffneten Nationalgalerie ließen David Chipperfield Architects die 343 Zentimeter breiten Flächen aus Verbundsicherheitsglas in China – der einzige Hersteller weltweit, der in diesen Dimensionen produzieren kann – nach individuellem Maß anfertigen. Das Glas, so wichtig für die präzise Architektur des Museumsbaus, so schwierig in der technischen Umsetzung. Schon 1969, ein Jahr nach der Eröffnung, tauchten auf der Glasfassade erste Mängel auf. Jetzt sieht man nichts mehr von bautechnischen Komplikationen, von den Grenzen des Materials.

Mief der 60er-Jahre

"So viel Mies wie möglich." So lautete der Leitsatz von David Chipperfield für seine sechsjährige denkmalgerechte Modernisierung. Geht man durch die frischsanierten Räumlichkeiten, deren Interieur möglichst originalgetreu rekonstruiert wurde und selbst vor einem gewissen "Mief der Sechzigerjahre" nicht zurückscheute, wie Martin Reichert, der Projektleiter der Sanierung, das Zusammenspiel von Salz-und-Pfeffer-Muster, Eichenholzelementen und Raufaseroberfläche zusammenfasst, läuft man also über den schon in Vergessenheit geratenen Bouclé-Teppichboden, setzt sich auf einen der restaurierten Barcelona-Chairs und schaut in die mit LED belichteten Säle hinein. Noch mehr Mies als je zuvor.

Denn der Minimalist Mies, der seit den 1920er-Jahren daran arbeitete, mit den künstlerischen Möglichkeiten von Glas und Stahlskelettstrukturen freie, offene, mit der Landschaft verbundene Räume zu schaffen, hatte in seinen Entwürfen von 1963 für die Neuen Nationalgalerie einen visionären Ort entwickelt, der den technischen Möglichkeiten vorausging – zumindest denjenigen im kriegsgebeutelten Westberlin, das sich mit dem Bau einer solchen Architekturikone ein starkes Symbol des Wiederaufbaus erhoffte. Doch der Beton war bald porös, der Stahl verzog sich, und die Moduldeckenplatten waren nur manuell zusammengezimmert.

Fast alles neu im Untergeschoss

Auch wenn sich äußerlich wenig verändert hat, ist im Untergeschoss fast alles neu, die kompletten Oberflächen wurden entfernt und erneuert. "Als würde man einen Mercedes-Oldtimer restaurieren, haben wir den ganzen Kern rausgenommen", sagt Martin Reichert. "Wir haben viel mehr von der Bausubstanz berührt als bei der Sanierung des Neuen Museums." Letztlich aber glich David Chipperfield das Gebäude der Perfektion seines Entwurfs von 1963 an.

Mies van der Rohe legte diesen Entwurf damals für einen zukünftigen Museumsbau vor, der zu diesem Zeitpunkt noch kaum eine Sammlung beheimaten konnte. Die in der Weimarer Republik berühmte zeitgenössische Kollektion der Nationalgalerie mit Werken von Impressionisten und Expressionisten nämlich war unter den Nationalsozialisten zerschlagen worden.

Kunst der Vorkriegszeit

Und so bildeten die ersten Künstler Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein, Fernand Léger oder Piet Mondrian den kargen, anfänglichen Bestand der Nationalgalerie.

Ludwig Mies van der Rohe entwarf die Ausstellungssäle großteils für seine Zeitgenossen aus den Berliner Vorkriegsjahren. Er kannte die kleinen bis mittelgroßen Malereien und Bildhauerarbeiten einer modernen Kunst der Vorkriegszeit, die noch nicht die raumgreifenden Formate des gerade in den USA aufkommenden abstrakten Expressionismus einnahmen. An diese Sammlung dachte er bei seinen fließenden, äußerst reduzierten Räumen auf der unteren Etage.

Das durchgehende Weiß an Wand und abgehängter Decke, der überall gleiche Teppichboden, die Leisten aus Eichenholz, die raumhohen Fenster, der stete Blick zum Skulpturengarten – all das ist formal wie ästhetisch so maßstäblich für eine Kunst, die zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Architektur im Berlin der Nachkriegsjahre wie auch heute noch hochpolitisch ist.

Unaufdringlich und toll

Da kann man sich zunächst nicht vorstellen, dass David Chipperfield Architects in diesen wohlkomponierten Sälen im Untergeschoss einen geradezu radikalen Eingriff machten, denn sie öffneten die ursprünglich verschlossenen Depoträume als Garderobe sowie Shop und legten die Betonstruktur vollkommen frei. Doch sie taten dies mit einer sanften Radikalität. Sind von der flankierenden Halle aus nur die Eichenholzmöbel im sonstigen Design sichtbar, entwickeln diese neuen Räume ihre überraschende Plötzlichkeit erst, wenn man darin steht. Der rohe Beton zeigt die wuchtigen Träger mit noch wuchtigeren Trichtern als Kapitel – diese Ästhetisierung der sonst verborgenen Konstruktion ist unaufdringlich und toll.

Die Neue Nationalgalerie war immer schon schön, und jetzt ist sie noch schöner. Auch das nicht geschulte Auge kann ohne Kenntnis um die viel angeführten Referenzen an eine Tempelarchitektur und Karl Friedrich Schinkels Altes Museum die Eleganz erkennen, mit der das nun wieder mattschwarz beschichtete Stahldach weit vorkragt, zu dem sich die acht Stahlträger verjüngen, als gäbe es keine 1200 Tonnen Dachgewicht, und die ganze Stadt auf dem großflächigen Weißglas selbst zu einem Schauspiel wird.

Auf dieser gläsernen Fassade kündigt sich bereits das nächste Kapitel Berliner Architektur an: das vieldiskutierte Museum des 20. Jahrhunderts von Herzog & de Meuron, direkt nebenan im Kulturforum und in Zukunft unterirdisch mit der Neuen Nationalgalerie verbunden. Noch stehen nur die Kräne und Tanks auf der Baustelle, doch der Mies-Tempel wird der vieldebattierten "Scheune" immer einen gläsernen Spiegel vorhalten. (Sophie Jung, 22.8.2021)