Reichlich surreal geht es zu im und um das Haus der Familie Carnis.

Volker Beushausen

Auch die Ruhrtriennale fiel im vorigen Jahr der Pandemie zum Opfer. Sie findet in diesem Jahr wieder statt. Die besondere Kunstanstrengung ist ein kulturelles Erbstück von Gerard Mortier für eine Region, die ihre Stein gewordene Industrie-Geschichte für die Künste in die Gegenwart holt – für die nächsten drei Jahre unter der Intendantin Barbara Frey.

Die Schweizer Regisseurin hat selbst zum Auftakt in der Maschinenhalle der Zeche Zweckel in Gladbeck Edgar Ellen Poes "Untergang des Hauses Usher" als Gruselgeschichte mit Musik beschworen. Bewusst korrespondierend mit dem Schauspiel-Entree startete die Musiktheaterschiene der Ruhrtriennale in der Bochumer Jahrhunderthalle mit "Bählamms Fest". Die 105minütige Oper von Olga Neuwirth wurde 1999 in Wien uraufgeführt.

Recht surreal

Das Libretto von Elfriede Jelinek beruht auf der Vorlage von Leonora Carrington (1917-2011), deren gemeinsame Jahre mit dem Surrealisten Max Ernst bei ihr literarische Spuren hinterlassen haben. Denn reichlich surreal geht es zu im und um das Haus der Familie Carnis. … Das irische Regieduo Dead Center (Ben Kidd und Bush Moukarzel) und Ausstatterin Nina Wetzel haben dafür eine karge Heidelandschaft in die Jahrhunderthalle gepflanzt. Es ist sehr atmosphärisch: Vorne ein Teich, weiter hinten, auf einer Drehscheibe, steht ein einfaches, aber seltsames Haus. Wenn der Diener mit der Zeitung nach der summenden Fliege an die Scheibe schlägt, dann kippt die ganze Giebelwand ein erstes Mal noch vorn – für den Blick hinter die Fassade.

Den gibt es auf der Rückseite als Projektionen. Da sieht man den "richtigen" Hund hinter dem von Graham F. Valentine (virtuos gespielten und gejaulten) menschlichen Hund Henry. Oder umgekehrt.

Jeder gegen jeden

Es ist über 13 Bilder eine Reise in ein alptraumhaftes Zwischenreich. Mit Wolfs- und Hundegeheul und Nebelwallen. Mit tanzende Schafen, die wie kopflose Gespenster aussehen. Mit uniformierten Hundepolizisten auf allen Vieren. Und mit einer schrägen Jeder-gegen-jeden-Familie. So verschwimmen die Grenzen zwischen Schein und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, Lebenden und Toten und auch die zwischen Mensch und Tier.

Bei einer herrischen Schwiegermutter, die wie Hilary Summers mit Divenhabitus vom Rollstuhl aus regiert; einem versoffenen Ehemann, wie deren Sohn Philip (Dietrich Henschel) und dessen auftauchender Ex Frau Elizabeth (Gloria Rehm) muss die flippige Theodora (Katrien Baerts) ja geradezu rebellieren, ins Kinderzimmer flüchten und sich in ein Liebesabenteuer mit dem Wolfsmenschen Jeremy (Andrew Watts) stürzen.

Geister der Vergangenheit

Im Laufe des Abends verselbständigen sich aufsteigende Erinnerungen und Geister der Vergangenheit, Hetzjagden, Rituale aus dem Reich der Lämmer oder Engelserscheinung immer mehr zu eigenständigen Traumbildern, die über der Heide des Grauens schweben. Fallhöhe gibt es auch, doch nur, wenn Jung-Spiderman einen abgetrennten Schafskopf aus der Höhe der Halle abseilt.

Die durchaus mögliche szenische Schlachtplatte hinter der bürgerlichen Fassade bleibt hier aus. Abgetrennte Köpfe und das Blut, das den Teich rot färbt, werden kaum jemandem den Schlaf rauben. Neben der Atmosphäre aus der Tiefe des Raumes, die gleichwohl wirkt, ist es die Musik Neuwirths, die den Abend trägt.

Fabelhaftes Ensemble

Sie liegt bei Sylvain Cambreling und dem fabelhaften Ensemble Modern, samt allen Live-Electronic-Zugaben in den denkbar kompetentesten Händen. Neuwirth greift beherzt und mit Lust ins Klanguniversum, scheut sich vor keiner Zersplitterung oder zitierenden Anspielung, lässt es stöhnen, jaulen und ächzen, als würde die Jahrhunderthalle selbst abgelagerte Klangsedimente ihrer Vergangenheit absondern. Im Bündnis mit ihrer Librettistin blitzt dabei auch hin und wieder schwarzer Humor auf. Alles in allem – ein schaurig (vielleicht ein wenig zu) schöner Abend, der an diesen Ort und in unsere Zeit passt! (Joachim Lange,20.8.2021)