Dachdeckerlehrling Roland steht auf dem Dach, während seine Kollegen Ziegel verlegen. Ein Kran stellt schwankend eine Palette Ziegel ab. "Habe ich zu viel versprochen? Schau dir diesen Ausblick an, genau deshalb liebe ich meinen Beruf", sagt er. Beim Blick nach unten kann einem schon mulmig werden – so wie der Autorin des Textes. Dabei steht man gar nicht wie Roland auf dem Dach, sondern sieht per Virtual-Reality(VR)-Brille ein 360-Grad-Video. Es fühlt sich an, als würde man im Dachdeckerbetrieb sein. Wie in einem digitalen Wimmelbild ist in jeder Ecke etwas los.

Rolands Führung durch seinen Ausbildungsbetrieb und seine Arbeitsorte ist Teil des Berufsorientierungsprojekts "Virtuelle Betriebsbesichtigungen". Dieses wurde im Mai von der Wirtschaftskammer (WKO) lanciert. Insgesamt 28 Berufe in neun Berufsgruppen kann man sich neben dem Dachdeckerlehrling derzeit ansehen: Man begleitet die angehende Malerin Elena oder Denise, die eine Lehre zur Speditionskauffrau macht. In zwei Jahren sollen alle Lehrberufe erfasst sein.

Durch die Brille im Malerbetrieb von Lehrling Elena. Auf dem Bildschirm ist zu sehen, was Mitentwickler Christoph Sitar in der Brille sieht.
Florian Lechner

Im Einsatz sind derzeit 80 VR-Brillen in ganz Österreich: in Berufsinformationszentren der WKO, des Arbeitsmarktservice, in Talentecentern. Sogenannte Lehrlings-Ambassadors machen an Schulen Berufsorientierung mit der Brille. Auch eine Web-Applikation gibt es.

Ersetzt keine Praxiserlebnisse

Bis dahin sei es ein längerer Weg gewesen, erzählt Christoph Sitar, Geschäftsführer von Mediasquad, einem Innsbrucker Studio für Extended-Reality-Apps. Eigentlich kommt Sitar aus der 3D-Industrievisualisierung und dem Gamingbereich. Gemeinsam mit dem Produzenten Valentin Sysel, der mit seiner Firma VRme.eu unter anderem 360-Grad-Videos für Virtual Reality macht, hat er die "Virtuellen Betriebsbesichtigungen" entwickelt.

Sozusagen der Pilot war ein Projekt des Vereins "Lehre in Vorarlberg", das dann von der WKO auf ganz Österreich ausgeweitet wurde. "Das war noch vor Corona, aber das Go für die österreichweite Umsetzung war mit der Pandemie leichter zu bekommen", sagt Sitar. Denn Corona-bedingt konnten deutlich weniger Lehrinteressenten Tage der offenen Tür besuchen oder in Betriebe schnuppern – Erfahrungen, die bei der Entscheidung für den weiteren beruflichen Weg wichtig sind.

Virtuelle Betriebsbesichtigungen ersetzten keineswegs Praxiserlebnisse, betont Sitar: "Es ist ein möglichst realistisches Schnuppern vor dem wirklichen Schnuppern." Und es helfe, sagt Sysel, sich in einer Viertelstunde – die durchschnittliche Dauer einer VR-Session – zu informieren, welche Berufswelten infrage kämen. Oder wo sich ein Praktikum auszahlen würde.

Stereotype umgehen

Valentin Sysel, Mitentwickler von "Virtuelle Berufsbesichtigungen", zeigt die Web-Applikation. Zu sehen: das Dach, auf dem Dachdeckerlehrling Roland steht.
Florian Lechner

Und man könne laut Sitar auch Stereotypen bei der Berufswahl entgegenwirken. Mit dem "Auf gut Glück"-Button werden zufällig Lehrberufe angezeigt. Auch weibliche Lehrlinge stellen klassische Männerjobs vor. "Und ein Bub, der sich für einen Kosmetikberuf interessiert, oder ein Mädchen, das in den Hochbau will, kann sich die Berufe allein anschauen, ohne sich vielleicht vor der Klasse bloßzustellen."

Um ein möglichst authentisches Bild zu bekommen, war es Sitar und Sysel wichtig, dass die Lehrlinge selbst erzählen, was sie und ihre Kollegen im Video tun, und diverse Aufgaben zu sehen sind. Und dass Emotionen aufkommen, auch wenn man nicht mit den Dachdeckern Ziegel verlegen kann, wie bei einem Computerspiel. "Das Hands-on einer dreidimensionalen VR fehlt, aber das würde den technischen Rahmen des Projekts sprengen", räumt Sitar ein.

Trotzdem kann man einiges entdecken in den zwei Rundum-Videos, die es pro Beruf zu sehen gibt. Auf Werkbänken, in Regalen, neben Farbkübeln sind Icons versteckt. So erfährt man beispielsweise mehr über das Gehalt, die Ausbildungsdauer oder Karriereschritte nach der Lehre. "Es geht darum, es zu erleben, nicht nur zu sehen", sagt Sysel.

Spielerische Ansätze

Dazu würden auch das simple Usability-Design und die spielerische Umsetzung des Projekts – Stichwort Gamification – beitragen. Je mehr Jobs man sich ansieht, desto mehr wächst der Balken im linken Sichtfeld. Zu gewinnen gibt es Bronze, Silber und Gold – am Ende kann man ein Feuerwerk schießen lassen.

Die beiden technischen Köpfe hinter "Virtuelle Betriebsbesichtigungen": Christoph Sitar (links) und Valentin Sysel.
Florian Lechner

Auch das Tutorial zu Beginn, das einem zeigt, wie man per Augensteuerung durch die virtuelle Welt navigiert, ist bewusst spielerisch und simpel gestaltet. Es müsse sich richtig, plausibel anfühlen, sagt Sysel. Gerade als VR aufkam, wurde einigen Nutzern schwindelig. Das wolle man so vermeiden. So wie wir gelernt haben, auf Smartphones zu scrollen und swipen, müssen wir einfache Gesten lernen, um uns in der VR zurechtzufinden. Dieses Wissen wenden Sitar und Sysel auch bei virtuellen Programmen zur Mitarbeiterweiterbildung an, etwa als Training an der Produktionslinie bei der Pharmafirma Sandoz oder als Job-Assessment beim Motorenhersteller BRP-Rotax.

Haben Firmen virtuelle Produktionsanlagen im Einsatz, müssen sie keine echten mehr für Trainings sperren oder Testanlagen für Simulationen errichten, die Schulungszeit könne sich verkürzen, weiß Sysel. "Jetzt lernen die schon beim Onboarding komplexe Dinge und wissen zum Beispiel, was sie tun müssen, wenn es wo klemmt." Letztlich sei es ein Kostenvorteil. Auch wenn das Investment in VR-taugliche Brillen, Rechner und Programme – je nach Komplexität – durchaus im sechsstelligen Bereich liegen könne.

Fortschritt messen

Beim Job-Assessment von BRP-Rotax muss man unter Zeitdruck einen Motor zusammenbauen. Die Tätigkeiten werden automatisiert gemessen. Etwa wer die Schraube im hinteren Eck aufgehoben hat und sich als gründlich erweist. Am Ende sehen Kandidaten ihre Stärken und Schwächen und können so besser lernen, so das Konzept von Sitar.

Anders als bei den "Virtuellen Betriebsbesichtigungen" kann man sich bewegen, an der Werkbank bohren. Aber nur, solange man bei den Controllern nicht die linke und rechte Hand vertauscht – dann kennt sich der Computer kurz nicht mehr aus. (set, 23. 8.2021)