Man braucht keine Statistiken, um festzustellen, dass es in Österreich an Ärzten fehlt. Wer einen Termin braucht, merkt es an den Wartezeiten. Oder in überfüllten Kassenordinationen. In vielen ländlichen Regionen wird händeringend nach Nachfolgern für niedergelassene Mediziner gesucht. Und nicht nur dort. In den Städten steigt der Zulauf zu Wahlärzten, während immer mehr Kassenstellen unbesetzt bleiben. Vor allem in jenem Bereich, der als erste, essenzielle Ansprechstelle fungiert: in der Allgemeinmedizin.

Laut Österreichischer Ärztekammer gibt es hierzulande derzeit 13.138 Allgemeinmediziner. Dass etwa 50 Prozent aller Kassenärzte in den kommenden zehn Jahren in den Ruhestand treten werden, ist bekannt. Ebenso, dass dies noch größere Lücken in die "Hausarzt"-Riege reißen wird. Doch der Nachwuchs fehlt. Nicht nur, weil etwa Deutschland und die Schweiz junge Mediziner mit attraktiven Angeboten locken. Auch Ausbildung, Chancen und Erwartungen haben sich geändert.

Patienten, die es sich leisten können, lassen sich "privat" behandeln. Solche mit kleineren Budgets orten "Zwei-Klassen-Medizin". Die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) fordert eine Änderung des Aufnahmeverfahrens für das Medizinstudium, um den Zugang zu erleichtern. Die Standesvertretung der Ärzte selbst sieht ob des Nachfolgeproblems gar "Feuer am Dach".

Fragt man Patienten, rangiert der Wunsch nach "einem Arzt, der sich Zeit nimmt", ganz oben auf der Liste. Was jene wünschen, denken und erleben, die sich tagaus, tagein bemühen, diese und andere "Brandherde" zu löschen? Wir haben nachgefragt ...

"Der Beruf des Allgemeinmediziners muss wieder attraktiver werden." Dr. Ursula Leitner
Foto: Heribert Corn www.corn.at

Landärztin Dr. Ursula Leitner hat ihre Ordination in Pottendorf (NÖ) vor gut elf Jahren übernommen. Mitsamt rund 800 Patienten, die ihr Vorgänger vor Ort betreute. Inzwischen suchen rund 4000 ihren Rat. Noch gibt es in der Großgemeinde drei praktische Ärzte. Zwei davon werden heuer in Pension gehen, meint Leitner besorgt: "Soweit ich weiß, gibt es noch keine Nachfolger." Gut möglich also, dass jene, die "ihren Doktor" an den Ruhestand verlieren, sich bald bei ihr einfinden werden. Allerdings: "Aktuell schaffe ich bis Mittag um die 100 Patienten. Mehr geht einfach nicht."

Dass Ärzte inzwischen Kollegen in ihrer Ordination anstellen dürfen, hat Leitner bisher nicht geholfen: "Niemand ist lang geblieben. Der Stress ist, wie es scheint, zu groß. Ich denke, das hat auch mit der Ausbildung im Spital zu tun. Dort ist immer jemand, den man als junger Arzt noch etwas fragen kann. In der Ordination aber muss man allein und schnell Entscheidungen treffen. Viele trauen sich das nicht zu. Interessierte dürfen sich gerne bei uns melden!"

Während der Öffnungszeiten bleibt keine Zeit, "sich länger mit Patienten hinzusetzen", bedauert die Landärztin: "Ich musste selbst erst lernen, dass eine Ordination auch ein Unternehmen ist. Verdienen kann man nur mit Masse. Man darf ja nicht vergessen: Bei 8,80 Euro* pro Patient – egal, wie lang ich ihn betreue – muss genug Geld für Miete, Personal, Betriebskosten und mehr zusammenkommen. Wir machen auch Labor, aber seit die Honorare hier gedeckelt wurden, rentiert sich das eigentlich nicht, weil wir das vorgegebene Limit schon am dritten Tag überschreiten." Dass sich ihr Ehemann um alle bürokratischen Belange kümmert, sieht Leitner als "großes Glück": "Allein wäre das nicht machbar."

Ursula Leitners Wunsch: "Der Beruf des Allgemeinmediziners muss wieder attraktiver werden." Sie selbst bereut ihre Entscheidung nicht: "Man kann so vieles selbst tun und ist mit unterschiedlichsten Anforderungen konfrontiert. Das ist abwechslungsreich und spannend."

"Eine Gruppenpraxis? Das ist wie eine Ehe, mit allen entsprechenden Problemen." Dr. Beatrix Patzak
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Stadtärztin Dr. Beatrix Patzak hat ihre Ordination im 20. Wiener Gemeindebezirk 2013 eröffnet. Der Zulauf ist enorm: "Ich habe mit 70 Patienten pro Tag begonnen. Jetzt sind es bis zu 170." Oft reicht die Warteschlange bis vor die Türe. Und häufig braucht die engagierte Medizinerin Übersetzungshilfe, weil Patienten verschiedenster Muttersprachen ihre Hilfe suchen. Ein Problem, das sie mit mehrsprachigen Mitarbeiterinnen und Infoblättern löst.

Größere Hürden sieht Patzak anderswo: "Einzelordinationen mit Kassenvertrag sind ein unerwünschtes Auslaufmodell. Man hat geradezu das Gefühl, von der Politik als Feind betrachtet zu werden. Außerdem ist das Verrechnungssystem der Kassen veraltet. Einerseits gelte ich als selbstständige Unternehmerin, andererseits sind mir grundlegende kaufmännische Möglichkeiten – wie etwa Vorsteuerabzug – versagt." Man müsse "Masse machen", um die Fixkosten zu berappen. Zudem führe das System zu Unverständnis und Ärger bei den Patienten: "Die Kasse legt fest, was ich verschreiben darf. Aber eine Klausel im Vertrag verbietet mir, dies den Patienten zu erklären."

Der Nachwuchsmangel habe auch mit der Ausbildung zu tun: "Wir haben nach drei Jahren Turnus im Spital als Vertretungsarzt Erfahrung und mit Fortbildungen Punkte gesammelt, bevor wir uns um eine Kassenordination bewerben konnten. Jetzt kann man gleich eine gründen. Die Work-Life-Balance, mit der man als Allgemeinmediziner zu rechnen hat, macht das aber unattraktiv."

Gruppenpraxen betrachtet Patzak skeptisch: "Das ist wie eine Ehe – mit allen entsprechenden Problemen. Und Kollegen anzustellen führt dazu, dass junge Ärzte – je nach aktuellem Lebensplan – kommen und gehen. Der Kassenarzt der Zukunft, der per Annonce gesucht und nach Stunden bezahlt wird, aber keine Bindung mehr zu den Patienten hat? Kein Wunder, wenn jeder lieber zum Wahlarzt geht, der sich Zeit nehmen kann."

"Den aktuellen praxisfernen Test fürs Medizinstudium hätte ich wohl nie bestanden." Dr. Wolfgang Molnar
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Dr. Wolfgang Molnar hat im Jänner 2021 das Primärversorgungszentrum (PVZ) Medizin Augarten in Wiens zweitem Bezirk eröffnet. Also eine von Allgemeinmedizinern geführte Gemeinschaftspraxis, in der auch Therapeuten und Pflegekräfte Patienten betreuen. Ein seit 2017 von Bund, Ländern und Sozialversicherung als Verbesserung der Gesundheitsversorgung gepriesenes Modell, das allerdings nur sehr holprig in die Gänge kommt: Von bis Herbst 2021 angekündigten 75 Zentren gab es im Juni 32. Nur vier davon in Wien. Und Molnar, der seine Praxis seit 1986 betreibt, hat jahrelang darum gerungen, seines mit seiner Frau und Berufskollegin Ivana Molnar starten zu können.

"Früher musste ich oft bei der ÖGK erklären, warum wir so viel machen. Dann kam das Umdenken – und plötzlich die Frage, ob Ivana und ich aus unserer Gruppenpraxis nicht doch ein PVZ machen wollen." Unterstützung der Standesvertretung habe es anfangs nicht gegeben. Obendrein bedurfte es einer Gesetzesnovelle: "Dass sich drei Allgemeinmediziner zusammentun müssen, war schwer zu erfüllen, weil potenzielle Partner immer wieder der Mut verließ." Die Möglichkeit, Kollegen anzustellen, ebnete den Weg. Jetzt führen die Molnars das neue PVZ zu zweit. Mit Ärztin Susanne Hawlicek und weiteren 25 Angestellten. Auch Wahlärzte verschiedenster Fächer ordinieren – eingemietet – im PVZ Medizin Augarten.

Weniger Bürokratie

Kassenarzt Molnar ist zufrieden: "Wir sind das erste PVZ nach dem neuen Gesetz. Unsere Folgekosten sind niedriger als vorher, weil wir mehr anbieten und leisten. Die langen Öffnungszeiten freuen die Patienten, die durch unsere klare Diensteinteilung trotzdem wählen können, wer von uns ihr Hausarzt sein soll." Bis zu 400 Patientinnen und Patienten finden pro Tag beim Team des PVZ Betreuung.

"Reichtümer" verschafft dies den Betreibern nicht: "Bei rund 18 Euro Grundvergütung pro Krankenschein und Quartal ist derlei wirklich nicht drin." Auch Wolfgang Molnar hofft auf Reformen: "Den aktuellen, praxisfernen Test fürs Medizinstudium hätte ich wohl nie bestanden. Auch wäre es wichtig, Jungärzte in den Spitälern praxisbezogener auszubilden, sie als Lernende statt als Systemerhalter zu behandeln."

Was den Beruf des Allgemeinmediziners wieder verlockender machen würde? Molnar zögert mit seiner Antwort nicht: "Weniger Bürokratie. Vertragstreue, auch bei einem Regierungswechsel. Und Beibehaltung pandemiebedingter Erleichterungen wie Krankschreibung per E-Mail oder Telefon und Telemedizin!" Wünsche, die wohl nicht nur Österreichs Ärzte hegen. (Elisabeth Schneyder, CURE, 20.9.2021)