Shootingstar Florentina Holzinger inszeniert bei der Ruhrtriennale in Duisburg Dante Alighieris "Divine Comedy" als martialische Jenseitsfantasie.

Nicole M. Wytyczak

Im Jenseits ist der Teufel los. Er sitzt auf einer Motocross-Maschine und flitzt durch die nebelige Düsternis, gibt Gas für den Sprung über eine Rampe, dass es kurz aufhellt – und verschwindet mit rotem Rücklicht in der Tiefe der Bühne. Könnte von Frank Castorf sein, ist aber von Florentina Holzinger. Die österreichische Tänzerin und Regisseurin, die die Theaterwelt mit Martial Arts das Fürchten lehrt, hat sich für ihre jüngste Arbeit einen alten Jubilar vorgeknöpft: den vor 700 Jahren in Ravenna gestorbenen Dichter Dante Alighieri und seine Göttliche Komödie. In der am Donnerstag bei der Ruhrtriennale in Duisburg erstaufgeführten und im Oktober im Tanzquartier Wien zu sehenden Divine Comedy folgt sie dem Meister auf seinem Trip ins Jenseits.

Von den über 14.000 Versen – kaum lesbare gereimte Elfsilber – allerdings keine Spur. Sie beschreiben das Debakel und die Freuden des postmenschlichen, seelischen Daseins in den drei Jenseitsreichen Inferno, Purgatorium und Paradies. Holzinger folgt dem Ablauf grob, und doch ist alles ganz anders. Hier wird zügig Holz gehackt, Blut abgezapft, Sex vollzogen, eine Ratte seziert und vieles mehr. Es ist thrilling mitanzusehen.

Die mit Tanz zum Shootingstar gewordene Wiener Regisseurin hat nichts anderes vor, als Grenzen zu überschreiten: Schmerzgrenzen, Gefahrengrenzen, Geschmacksgrenzen. Mit einer kampfkunstgeschulten Körper- und Theatersprache rollt Holzinger Stoffe der Hochkultur neu auf. Es sind immer nackte Frauen, scheinbar zu allem bereit, die Schneisen durch kultur- und kunstgeschichtliche Erzählungen schlagen und damit tradierte Perspektiven aushebeln. Dabei geht die Frauschaft (es sind über 20) stets bedächtig, unnachgiebig und selbstironisch vor.

Tanzendes Mobilklo

Die Jenseitsreise beginnt, nachdem Dante (Annina Machaz) von der Hypnosemoderatorin Miranda (Miranda von Kuilenburg) in Schlaf versetzt wurde und sich mit einem hereintanzenden Dixiklo sogleich das Tor zum ersten Höllenkreis öffnet. Aus den Ritzen des verschlissenen Plastiktürls quillt verdächtig der Rauch. Den Dichter plagt unter seinem historisch tradierten, efeubekränzten Renaissance-Samthäubchen gewaltig die Notdurft. Fast ist es zu spät, aber er zwickt, konspirierend mit dem Publikum, die splitternackten Backen zusammen und ab ins Klosett.

Engelsgleich begleiten rundherum Musikerinnen an Geige, Cello oder Konzertflügel die Reise in die Gefilde der Buße und tragen nichts am Leib als rücklings aufgeschnallte Skelette, deren Gebeine im Takt der Musik keck mitwackeln. Der Tod ist eben immer in Griffweite. Auch auf der Motocross-Maschine fährt ein Knochengerüst auf dem Rücksitz mit und lugt gierig hervor, wenn im Nebeldunst zwischen nackten Tänzerinnen scharf abgebogen werden muss.

Nichtstun ist im Jenseits keine Option. Da wird sträflingshaft im Takt gerackert. Maschinengleich und begleitet von ebensolchem metallischen Sound (Komposition & Sounddesign: Maja Osojnik und Stefan Schneider) baut sich ein Bewegungsräderwerk auf, in dem endloser Hürdenlauf, endloses Holzhacken, sisyphoshaftes Rücklings-über-eine-Kante-Abstürzen, nacktes Neben-Motorsägen-und-Motocross-Tanzen zum Alltag gehören (Bühne: Nikola Knezevic). Am Nebentisch wird eine Ratte gehäutet und neu ausgestopft (ewiges Leben) und später einer festgeschnallten Person in den Mund geschoben – das läutet dann schon das Paradies ein.

Sterben als Orgasmus

Zuvor aber noch ist der Tod allgegenwärtig, auch in Gestalt der 80-jährigen Tänzerin Beatrice Cordua, die sich ihre eigene Grablegung als Sexakt imaginiert, das Sterben als ein Orgasmus – auf einer schwarzen, mit Trauerflor gesäumten Matratze. Cordua, schon in Tanz der Star, berichtet vom Bühnentod, den sie, die spätere Solistin, in John Neumeiers Le sacre du printemps als sich zu Tode tanzende, opfernde Frau sterben musste. Cordua, an der das Sterben exerziert wird, wird so zum alternativen Dante, der auf dem E-Mobil durchs Jenseits rollt und sich die Sache genau ansieht.

Auf zwei rückwärtigen Screens schlagen derweil die Flammen immer höher. Zuvor will noch ein Renaissancegemälde gemalt werden, natürlich mit Menschenblut und dem Körper als Pinsel. Botticelli? Die Illustrationswelle, die Dantes Werk in Folge ausgelöst hat, ließe vieles zu. Autos senken sich vom Himmel, hingegen fährt ein Klavier senkrecht hinauf, während es gespielt wird.

"Shitty Journey"

Und bevor die Hypnosedomina den armen Dante aus seinem Reisetraum erlöst, versinnbildlicht sich seine wahrlich "shitty journey" in einem Sturz des Dichters vornüber mit dem Gesicht in eine mit einem braunen Häufchen garnierte Farbpalette. Holzingers martialische Performancefeldzüge gehen hier mit erstklassiger Grand-Guignol-Kunst eine fiebersenkende Liaison ein. Wie war man froh, als alles in "love and peace" zu enden gewillt war. (Margarete Affenzeller, 21.8.2021)