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"Eine kurze Umarmung kann positive Emotionen auslösen, die viele Stunden oder gar Tage andauern." Martin Grunwald, Psychologe

Foto: Getty Images / AFP / Al Bello

Als Juan Mann 2004 begann, Passanten in Sydneys Pitt Street Mall "Free Hugs" (kostenlose Umarmungen) anzubieten, tat er dies zuallererst aus Not: Nach Auslandsjahren zurückgekehrt, fühlte sich der Australier fremd im eigenen Land und sehnte sich nach Zuwendung.

Dass seine Idee, Fremde zu herzen, Kultstatus erlangen würde, ahnte er damals nicht. Doch seine "Free Hugs"-Initiative ging via Internet und Presse um die Welt. Anhänger gründeten eigene Gruppen (etwa "Free Hugs Vienna"), und Umarmungsvideos fluteten die sozialen Medien. Erklärtes Ziel der "Hugger": Freude ins Leben bringen – durch Umarmungen.

Auch wenn die Pandemie dem liebenswerten Treiben ein Ende gesetzt hat: Manns Ansinnen, sich und anderen durch Berührung Gutes zu tun, war goldrichtig. Viele, die jüngst in Isolation ausharren mussten, hätten wohl sogar gern für einen (sicheren!) "Hug" bezahlt. Und dass positiv empfundener Körperkontakt ein Grundbedürfnis ist, ist wissenschaftlich untermauert. Bleibt er aus, kann das bittere Folgen für Physis und Psyche haben.

Vernachlässigter Sinn

"Fühlen und tasten ist viel wichtiger für unser Überleben als sehen, hören, riechen und schmecken", konstatiert Martin Grunwald. Der Experimentalpsychologe gilt als Pionier der Haptikforschung. Er gründete 1996 das entsprechende Labor am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung der Universität Leipzig, das er bis heute leitet. Sein Homo hapticus wurde 2018 als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet.

Kurzum: Wenn jemand um die Bedeutung körperlicher Berührung weiß, dann Grunwald. Und seine Kritik, dass Haptik in der Ausbildung für medizinische und pflegende Berufe sträflich vernachlässigt wird, hat Gewicht. Weil seine und viele andere Studien (etwa von Ashley Montagu oder René Spitz) belegen, wie essenziell das Tatssinnessystem für Überleben und Gesundheit ist.

Was der Experte schildert, ist auch für Laien bestechend nachvollziehbar: Wie finden wir im Dunkeln den Lichtschalter, merken, dass eine Pfanne heiß oder der Boden uneben ist? Der Tastsinn macht’s. Grunwald: "Ein Mensch kann blind und taub geboren werden und ist doch lebensfähig. Doch für den Tastsinn gilt diese biologische Gleichmut nicht."

Schließlich sorgt dieser dafür, dass wir uns unserer körperlichen Existenz bewusst sind. Wir fühlen uns, auch mit geschlossenen Augen. Jederzeit und überall. Morgens beim Aufwachen ebenso wie im Supermarkt: Der Tastsinn lässt uns wissen, ob wir stehen, sitzen oder liegen.

"Tastatur" des Lebens

Jede Berührung wird biologisch und psychologisch verwertet, ohne dass wir uns zwingend dessen bewusst werden. Schon Embryos reagieren auf Berührungsreize an den Lippen und ziehen den Kopf zurück, erkennen die Berührung der Körperhaut also als äußeren Umweltreiz. Die Berührung durch den Mutterbauch wird mit positiven Emotionen verknüpft. So entsteht ein Konzept von Nähe, das für das weitere Leben prägt: Was mich weich und warm berührt, ist gut für mich.

Längst ist erwiesen, dass Wachstum und psychische Stabilität ebenso von Körperberührungen abhängig sind wie das gute Miteinander von Liebes- oder Lebenspartnern. Und Grunwald bestätigt, was Juan Mann intuitiv als Mittel gegen sein Dilemma wählte: "Eine kurze Umarmung kann positive Emotionen auslösen, die viele Stunden oder gar Tage andauern."

Gefährlicher Mangel

Was Mangel anrichtet, haben Experimente gezeigt: Nach der Geburt von der Mutter getrennte Säugetiere leiden unter Entwicklungsdefiziten oder sterben. Doch von den Laborangestellten mehr als nötig berührte Welpen entwickeln sich fast so gut wie jene, die bei ihren Müttern geblieben sind.

Nur logisch, dass die Dinge beim Menschen nicht anders liegen. Auf jeden Fall kann fehlende körperliche Nähe gesundheitsschädlichen Stress, Depressionen, Schlafstörungen und mehr auslösen. Übrigens: Tier und Mensch reagieren nicht nur gleich, sie können sich auch gegenseitig helfen: Mit Katze oder Hund zu kuscheln lindert Berührungsdefizite.

Verschwiegene Not

Wie viel Berührung ein Mensch nötig hat, ist jedoch individuell verschieden. Grunwald: "Wer weniger braucht, hat auch Lockdown-Phasen unbeschadet überstanden. Wer mehr benötigt, hat gelitten." So wie viele Menschen in Senioren- und Pflegeheimen, wenn Besucher ausbleiben. Oder Langzeitsingles. Oder Menschen, die sich scheuen, anderen nahezukommen, weil sie fürchten, das werde stets als Aufforderung zum Sex verstanden.

Und davon gibt es viele, bedauert der Psychologe: "Wir reden heute über alles. Auch über Sex. Aber wir schämen uns, über unser Kontaktbedürfnis zu sprechen. Auch Junge retten sich lieber in sexuelle Aktivitäten und landen schneller im Bett, als ‚Bitte drück mich einfach mal‘ zu sagen."

Tastsensible Rezeptoren finden sich übrigens nicht allein in der Haut, sondern fast überall im Körper. Würde man diesen, so Grunwald, "in kleine Würfel mit einem Millimeter Kantenlänge zerschneiden, würde man in jedem je nach Körperregion einige Hundert bis Tausend dieser Rezeptoren finden".

Sind "Free Hugs" also Mangelware oder aus Sicherheitsgründen aktuell nicht angeraten, können Massagen als Überbrückung dienen: "Das ist gut angelegtes Geld, das eine Woche lang für Entspannung sorgt." (Elisabeth Schneyder, CURE, 24.8.2021)