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"Bisher waren unsere suizidgefährdeten Patienten 13 Jahre oder älter. Inzwischen haben wir schon Zehnjährige, die nicht mehr leben wollen." Katrin Skala, Kinder- & Jugendpsychiaterin

Foto: Getty Images / Frank Rothe

Was psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen betrifft, war Österreich schon vor der Pandemie keine Insel der Seligen: Rainer Fliedl und Andreas Karwautz von der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie stellten anhand 2012 bis 2019 erhobener Daten fest, dass bereits jeder vierte Teenager entsprechende Symptome aufwies.

Die Pandemie hat das Problem verschärft, wie eine Studie der Donau-Universität Krems und der Wiener Med-Uni zeigt. Eine im Februar 2021 durchgeführte Befragung von 3052 Schülerinnen und Schülern (ab 14 Jahren) ergab: 55 Prozent litten unter depressiver Symptomatik, die Hälfte unter Ängsten, ein Viertel unter Schlafstörungen – und 16 Prozent hegten Selbstmordgedanken.

Doch wer Hilfe sucht, hat schlechte Karten: Es fehlt an Fachärzten und Betten für stationäre Behandlung. Ein Problem, das nicht selten in bittere Nöte mündet.

Akute Notfälle

Besonders in akuten Notfällen, wie eine Alleinerzieherin aus Wien schildert: "Meine 13-jährige Tochter war schon seit über einem Jahr in Behandlung. Aber im Frühling ist die Situation mehrfach eskaliert. Meist in der Nacht. In der 24-Stunden-Ambulanz der Klinik Hietzing hat mein durchgehend latent selbstmordgefährdetes Mädchen selbst gebeten, wenigstens über Nacht bleiben zu dürfen. Nur: Es gab leider keinen Platz."

Kein außergewöhnlicher Fall, weiß Kinder- und Jugendpsychiaterin Katrin Skala von der Uni-Klinik Wien: "Vorerkrankungen treten jetzt schwerer zutage. Und Kinder und Jugendliche, die sonst nicht erkrankt wären, sind nun doch betroffen. In den vergangenen Monaten haben sich die Ambulanzkontakte im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt." Alarmierend sei die Zunahme ernsthafter Suizidgedanken: "Bisher waren das Patienten ab dem 13. Lebensjahr. Jetzt haben wir schon Zehnjährige, die nicht mehr leben wollen."

Auch der Anstieg bei Essstörungen sei bedrohlich, warnt Skala. Dass die pandemiebedingten Einschränkungen die Zahl stark übergewichtiger Kinder und Jugendlicher hochgetrieben haben, ist erwiesen. Ebenso, dass Fettleibigkeit die Lebenszeit verkürzen kann. Eine Krisenfolge, die wohl erst in 20 oder 30 Jahren sichtbar werden wird.

Magersucht im Vormarsch

Ein weniger bekanntes Drama wurde im ersten Lockdown deutlich. Fachärztin Skala: "Magersuchtfälle sind stark angestiegen." Noch habe man hier keine Todesfälle verzeichnen müssen, sei allerdings – wie auch beim Suizid – mehrfach nur knapp daran vorbeigeschrammt.

Was den Junioren derart zusetzt, liegt auf der Hand. Teenies brauchen ihre Peergroup, saßen jedoch bei der Familie fest. Positive Erlebnisse blieben aus. Auch für Kinder, die ihren Tag noch nicht selbst strukturieren können und ständig von allseits lauernder Ansteckungsgefahr hören. "Viele wollen nicht mehr aus dem Haus, weil sie fürchten, der Oma oder sonst jemandem zu schaden. Je jünger, desto größer die Angst", schildert Skala.

Keine rasche Lösung

Weil man als Kind oder Teenie vieles nicht mit den Eltern besprechen will oder kann, rät die Expertin Eltern, Anzeichen wie Verhaltensänderung oder Rückzug sofort, direkt und wiederholt anzusprechen: "Zeigen Sie, dass Sie helfen wollen, ohne Druck auszuüben. Auch wenn Ihr Angebot abgelehnt wird: Schon die Tatsache, dass Sie ein Angebot stellen, zeigt Ihrem Kind, dass Sie seine Probleme ernst nehmen." Insofern ist auch das Angebot professioneller Hilfe ein positives Signal. Allerdings, so Skala: "Derzeit muss man für einen Termin beim Kassenarzt mit monatelangen Wartezeiten rechnen."

Denn, wie gesagt: Es fehlt an Fachärzten. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist erst seit 2007 kein Additivfach mehr, gilt jedoch als "Mangelfach". Ein Facharzt darf jeweils nur einen angehenden Kollegen ausbilden. Zwar soll hier auf zwei erweitert werden. Bei insgesamt sechs Jahren Ausbildungszeit lässt dies jedoch keine rasche Lösung erwarten.

Kinder im Nachteil

Mit ihrem Appell gegen weitere Schulschließungen steht Spezialistin Skala nicht alleine da: "Der Umgang mit der Pandemie hat Kindern und Jugendlichen vermittelt, dass sie der am wenigsten wichtige Teil der Gesellschaft sind. Büros und Handel blieben geöffnet, Freizeitangebote und Schulen wurden aber geschlossen."

Diverse Studien über die Homeschooling-Monate des Jahres 2020 zeigten, dass dadurch 20 Prozent der Kinder völlig aus dem Schulbetrieb verschwanden und Junioren nicht bildungsaffiner Schichten in diesem Zeitraum stark benachteiligt wurden.

Hoffnung in Sicht

Wie dringend nötig mehr und neue Therapieangebote sind, belegt eine Online-Umfrage (Schabus & Eigl): Die Mehrheit der Sechs- bis 18-Jährigen vermutet, dass sich die Situation bis 2022 nicht ändern wird. 51 Prozent glauben gar, das Leben werde nie mehr so wie "vorher".

Einen Hoffnungsschimmer liefert seit März ein Pilotprojekt der Wiener Uni-Klinik und der Psychosozialen Dienste: "Home Treatment" durch professionelle Teams betreut betroffene Junioren in ihrem Zuhause. Der große Vorteil: Die jungen Patienten bekommen Hilfe im gewohnten Umfeld. Das Manko des Programms: viele Fälle, wenig "Platz". Skala: "Wir haben weit mehr Anfragen, als wir bewältigen können." (Elisabeth Schneyder, CURE, 19.9.2021)