Die aktuelle Situation für die 24-Stunden-Betreuerinnen ist menschenunwürdig.

Illustration: Horst Stein

Wenn ein Vogel Strauß in seiner natürlichen Umgebung mit seinem Schnabel Essbares vom Boden aufpickt, verschwindet sein Kopf oft im hohen Gras der Savanne. Dieses Verhalten wurde bereits im Altertum so gedeutet, dass der große Vogel im Moment drohender Gefahr seinen Kopf in den Sand steckt. Dies ist aus biologischer Sicht schlichtweg falsch.

Das daraus entstandene Sprachbild der Vogel-Strauß-Politik hat jedoch seine Berechtigung. Und es trifft eine Situation selten so gut wie jene der 24-Stunden-Betreuung in Österreich, sagt eine, die es wissen muss: Arbeitsrechtsexpertin Veronika Bohrn Mena.

Sie beschäftigt sich schon lange mit der Situation und kommt zum Ergebnis: "Seit Jahren weiß die Politik, dass die Arbeitskräfte in diesem Segment bedürftige Menschen meist unter Bedingungen pflegen, die man durchaus als moderne Sklaverei bezeichnen kann. Dennoch hat die Politik bis heute den Kopf in den Sand gesteckt."

Hilfe von Amnesty International

Doch das soll sich nun endlich ändern: Nicht nur die Betroffenen steigen jetzt unterstützt von offiziellen Vertretungen auf die Barrikaden. Auch Amnesty International hat das Thema auf seine Agenda gesetzt. Und sendet damit eine klare Botschaft an die Bundesregierung: Die aktuelle Situation ist menschenunwürdig.

Wie sieht die aktuelle Situation aber tatsächlich aus? Derzeit sind es 62.000 Personen, die sich in Österreich um 30.000 Pflegebedürftige kümmern. Von diesen sind wiederum 92 Prozent Frauen und 98 Prozent Migrantinnen. Sie kommen laut Statistik vorwiegend aus Rumänien und der Slowakei und pendeln für Turnusse von zwei bis vier Wochen nach Österreich, um hier gebrechliche Menschen zu betreuen.

Und das zu einem überwiegenden Teil so, dass die gepflegten Menschen über die Hilfe ausgesprochen glücklich sind. "Viele leisten weit mehr, als vereinbart ist. Weil sich Beziehungen aufbauen, echte Freundschaften", berichtet etwa Anna Leder von der erst kürzlich gegründeten Interessenvertretung für 24-Stunden-Betreuerinnen IG24. Nicht selten würden die ausländischen Helferinnen regelrecht zu Familienmitgliedern.

Kein Österreicher würde für dieses Geld arbeiten

Aber: Betreuerinnen und Betreute finden eben nicht direkt zueinander, sondern werden durch darauf spezialisierte Agenturen vermittelt. Und von da an wird die Sache gelinde gesagt komplex. Die Pflegerinnen (Männer sind mitgemeint) werden als selbstständige Einpersonenunternehmen eingestuft.

Aktuell beträgt der Tageslohn je nach Agentur zwischen 25 bis 55 Euro. Macht ungefähr zwei bis drei Euro Stundenlohn.
Illustration: Horst Stein

Und das, obwohl ihre Arbeitssituation keineswegs selbstbestimmt ist. "In den allermeisten Fällen sind 24-Stunden-Betreuerinnen hinsichtlich des Arbeitsorts, der Arbeitszeit und des Verhaltens bei der Arbeit an Weisungen ihrer Patienten und der Agenturbetreiber gebunden", sagt Anna Leder von der IG24. Zudem seien sie überwiegend für bloß eine Person tätig, und das oft über Monate oder gar Jahre.

Hinzu käme eine Entlohnung, für die "kein Österreicher arbeiten gehen würde", betont Anna Leder. Aktuell beträgt der Tageslohn je nach Agentur zwischen 25 bis 55 Euro. Macht ungefähr zwei bis drei Euro Stundenlohn, rechnet Amnesty International vor. Und Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich, sagt kopfschüttelnd: "Das rechtliche Rahmenwerk in Österreich lässt Ausbeutung von 24-Stunden-Betreuerinnen im großen Stil zu!"

Rahmenbedingungen für Ausbeutung

Tatsächlich ist diese Form der selbstständigen Betreuerinnen nur deshalb möglich, weil die Politik die dafür nötigen Rahmenbedingungen eigens geschaffen hat. Arbeitsrechtsexpertin Veronika Bohrn Mena erklärt die Sache so: "Eigentlich ist die Rechtssituation klar. Das sind in Wahrheit alles unselbstständige Arbeitsverhältnisse. Allerdings hat der Gesetzgeber im Jahr 2012 ein Gesetz verabschiedet, das die Scheinselbstständigkeit im Bereich der Pflege legitimiert." Damit wurde ihrer Auffassung nach ein System der Ausbeutung auf legaler Basis geschaffen, das vor allem zulasten von Frauen aus dem Ausland gehe.

Dieses Gesetz konnte wohl nur deshalb über die Köpfe von 30.000 Betroffenen hinweg beschlossen werden, weil sich über viele Jahre keine ernsthafte Vertretung für sie verantwortlich fühlte. Weder eine der Gewerkschaften noch die Arbeiterkammer oder die Wirtschaftskammer, monieren Betroffene.

Eben deshalb würden sich derzeit Pflegerinnen formieren, um mittels Sammelklage gegen die Republik Österreich eine Verbesserung ihrer Situation zu erzwingen, weiß Leder zu berichten. Sie sagt: "Entweder die Politik lenkt von selbst ein, oder die Sache wird ausgestritten werden müssen." Allein – sie als IG24 würden sich bei Klagen nicht starkmachen – als ehrenamtliche Institution fehle es an den nötigen finanziellen Mitteln.

Klagen sind in Vorbereitung

Wenn jemand über diese verfügt, dann die Vidaflex. Eine von der Gewerkschaft Vida 2017 gegründete sogenannte Gewerkschaftsinitiative, die sich den Interessen der österreichischen Einzelpersonenunternehmen verschrieben hat. Und sich inzwischen auch tatsächlich für die Bedürfnisse der heimischen Pflegerinnen starkmacht.

Wie dringend dies notwendig ist, kann Generalsekretär Christoph Lipinski am massiven Zulauf neuer Mitglieder ablesen. "Wir werden regelrecht überrollt", sagt er und versteht dies als klaren Handlungsauftrag. Eine Sammelklage gegen die Republik Österreich unterstützt er allerdings auch nicht: "Das ist nicht nur besonders kostspielig, es hat uns die Vergangenheit auch gezeigt, dass man auf diese Art nicht so viel bewegen kann, wie man bewegen müsste."

Allerdings seien aktuell andere Klagen in Vorbereitung. Und zwar gegen die schwärzesten Schafe im Rudel der insgesamt 900 Vermittlungsagenturen, die in Österreich derzeit tätig sind. Hier würde seiner Wahrnehmung nach besonders viel Schindluder getrieben. Er sagt: "50 Prozent der Agenturen sind in Ordnung. Aber die anderen 50 Prozent sind als mehr als fragwürdig einzustufen."

Die Hälfte der Vermittlungsagenturen macht nicht Geschäfte mit den Betreuerinnen und Pflegerinnen, sondern auf deren Rücken.
Illustration: Horst Stein

Das bedeutet, die Hälfte der Vermittlungsagenturen macht nicht Geschäfte mit den Betreuerinnen und Pflegerinnen, sondern auf deren Rücken. Und auch auf jenem der zu Pflegenden, so Lipinski. Er berichtet davon, wie Familien gegen Betreuerinnen ausgespielt werden. Dass mit Fantasieparagrafen Rechtslagen vorgegaukelt würden, um weitere Kosten verrechnen zu können. Und das auf beiden Seiten. Doch Klagen sind zu wenig, weiß Lipinski.

Zwei Forderungskataloge

Also hat er einen Forderungskatalog ausgearbeitet, der die größten Nöte der Betreuerinnen und Pflegerinnen einschließt: "Wir fordern natürlich eine Verbesserung der Bezahlung. Aber auch der Informationsfluss zu den Betroffenen muss endlich funktionieren." Das würde gerade die Pandemie deutlich machen, so der 43-Jährige. Stichwort: Grenzkontrollen und Drei-G-Regel.

Des Weiteren fordert Vidaflex, dass die Verträge zwischen Agenturen und Personal in der jeweils notwendigen Muttersprache verfasst werden und für die Betreuerinnen und Pflegerinnen eine Rechtssicherheit hergestellt wird. Beides sei aktuell nicht gegeben.

Was Lipinski im Gegensatz zur IG24 allerdings nicht fordert, ist die Abkehr vom Selbstständigendasein hin zu Angestelltenverhältnissen. "Unsere Erhebungen ergeben, dass das weniger als ein Drittel der Betroffenen möchte. Dem Großteil geht es darum, dass sie endlich adäquat entlohnt werden."

Was nämlich viele nicht wüssten, ist, dass eine Anstellung auch bedeuten würde, den Lebensmittelpunkt nach Österreich verlegen zu müssen. Das stehe aber im klaren Widerspruch zum Motiv der meisten Pflegerinnen und Betreuerinnen, hier in Österreich Geld für die Familie im Ausland zu verdienen. Lipinski schwebt übrigens ein Tagessatz von 75 Euro vor, das sei angemessen und akzeptabel.

Markanter Anstieg der Pflegenachfrage

Dass seine Punkte und auch jene von Amnesty International – die ebenso einen Forderungskatalog an die Bundesregierung übermittelt haben – Gehör finden, ist derzeit realistischer als je zuvor. Nicht zuletzt deshalb, weil unser System weiter unter Druck geraten wird. Die Statistik Austria prognostiziert, dass die Zahl an zu Betreuenden bis zum Jahr 2050 auf über 650.000 ansteigen wird.

Verbunden wäre dies mit einer deutlichen Kostensteigerung. Die Nettoausgaben für Pflegedienstleistungen könnten sich von aktuell 2,4 Milliarden Euro auf bis zu 13,9 Milliarden Euro erhöhen. Dass Handlungsbedarf besteht, weiß auch Gesundheits- und Sozialminister Wolfgang Mückstein, er hat eine freiwillige Zertifizierungsmöglichkeit für die Agenturen ins Spiel gebracht. Sie soll die Qualität sichern helfen.

Vor allem arbeitet er gerade mit dem Koalitionspartner an einem langfristigen Finanzierungsmodell. "Höchste Zeit", sind sich Lipinski, Leder und Bohrn Mena einig. Schließlich gehe es darum, einem "politischen Totalversagen", wie es Veronika Bohrn Mena ausdrückt, endlich ein Ende zu bereiten. Also den Kopf nicht nur sprichwörtlich aus dem Sand zu ziehen. (Johannes Stühlinger, CURE, 28.10.2021)