Nur wenige Menschen, die am Flughafen Kabul ausharren, stehen auf Evakuierungslisten. Noch weniger schaffen es überhaupt zum Flughafen.

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Immer wieder Schüsse, brütende Hitze, überall liegen Gegenstände aus dem Gepäck verstreut, Menschen kauern hinter Mauern und über ihren Kindern: Die Lage am Flughafen Kabul ist auch knapp eine Woche nach der Machtübernahme der Taliban chaotisch – und extrem gefährlich. Immer noch treffen jeden Tag zahlreiche verzweifelte Menschen ein, um an Bord der ausländischen Evakuierungsmaschinen zu gelangen und das Land zu verlassen. Donnerstagfrüh traf dort auch die Mutter von Ahmads* fünfjähriger Tochter mit dem gemeinsamen Kind ein. "Sie haben 24 Stunden ausgeharrt, hatten alle nötigen Dokumente dabei und konnten trotzdem nicht fliegen", erzählt der 39-Jährige im Gespräch mit dem STANDARD.

Ahmads Familie steht zwar auf einem Evakuierungsplan der USA, dieser sieht aber keine Garantie für ein sicheres Geleit bis zu einem Flugzeug vor. In der Nacht auf Freitag sei die Familie angegriffen und verletzt, als Ungläubige beschimpft worden. "Die Mutter wurde gefragt, ob sie sich nicht schäme, ins Ausland zu gehen", schildert Ahmad. "Die Taliban schaffen eine Atmosphäre, in der Menschen die Flucht nicht schaffen können." Aus Angst hat Ahmads Familie den Flughafen wieder verlassen.

"Es ist eine sehr extreme Situation, ich fühle mich wie ein lebender Toter", sagt Ahmad in dem Gespräch, das mehrmals durch Anrufe und Nachrichten rund um die Evakuierung unterbrochen wird. "Ich fühle mich schuldig, weil ich es bisher nicht geschafft habe, meine Tochter in Sicherheit zu bringen."

Drohungen der Taliban

Ahmad, der mittlerweile in Österreich im Logistikbereich tätig ist, hat bis 2016 in Afghanistan für die US-Regierung gearbeitet – bis ihm die Drohungen der Taliban zu viel wurden, er um sein Leben fürchtete. "Als ich bei der Polizei war, sagten sie mir, jeden Tag würden 100 Menschen sterben, ich solle mir Waffen besorgen und mich verteidigen", erzählt Ahmad. Er sei gezwungen gewesen zu fliehen, "ich wollte nicht, dass meine Kinder mich an meinem Grab besuchen müssen".

Er floh aus Afghanistan, seine Familie zunächst nach Mazar-i-Sharif zu Angehörigen. Nach der Machtübernahme der Taliban vergangene Woche kamen sie nach Kabul. "Sie haben alles zurückgelassen", hätten nur zwei, drei Kleidungsstücke dabei.

Der Onkel der 20-jährigen Studentin Bura* traut sich weder zum Flughafen noch wirklich vor die Tür: Er war Berater des mittlerweile geflohenen Präsidenten – und hat in dieser Funktion auch immer wieder öffentliche Auftritte absolviert, war im Fernsehen zu sehen. "Wenn die Taliban ihn auf der Straße erkennen – ich weiß nicht, ob das ein gutes Ende haben wird", sagt sie. Derzeit sei er untergetaucht.

Buras Familie floh 1992 aus Afghanistan nach Österreich, sie ist hier geboren. Derzeit versucht sie, jeden Tag mit ihren Angehörigen in Kabul zu sprechen. "Besonders nachts hört man im Hintergrund immer Schüsse", sagt Bura. Als nach der Machtübernahme der Taliban die Vorräte knapp wurden, habe sich ihre Tante stark verhüllt hinausgetraut. Es seien zwar deutlich mehr Männer auf der Straße gewesen, noch habe sie als Frau aber keinen Druck verspürt. Kleine Mädchen dürften in Kabul vorerst weiter zur Schule gehen, Frauen ihren Beruf als Journalistinnen ausüben, auch mit lockerem Kopftuch.

Große Ungewissheit

"Die Taliban sind ein bisschen anders als früher", glaubt Bura. Das könne aber auch nur daran liegen, dass ihnen derzeit viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, die ganze Welt hinsehe. "Wir wissen aber nicht, was morgen kommt." Es sei unklar, wie es weitergehe, wie ein Alltag unter den Taliban aussehen werde, wenn die mediale Aufmerksamkeit schwinde.

Ahmad traut den moderaten Ankündigungen der Taliban insgesamt nicht: "Glauben Sie einem Wolf, der Ihnen sagt, er wird Ihre Schafe hüten?" Seine Schwester war Richterin – bis die Radikalislamisten in ihrem Wohnort alle Richterinnen und Richter entlassen haben. "So viel zur Einladung der Taliban, zurück zur Arbeit zu kommen", sagt Ahmad. Seine Schwester habe Urteile über Terroristen gefällt, die nun von den Taliban freigelassen worden seien. Das sei auch in Akten vermerkt, auf die die Taliban nun Zugriff hätten. "Glauben Sie, sie werden Gnade walten lassen? Natürlich nicht!"

Mittlerweile versucht auch sie, nach Kabul zu gelangen – ein Unterfangen, das von ihrer Heimatstadt, die hier aus Sicherheitsgründen nicht genannt wird, mindestens 24 Stunden dauert – wenn sie überhaupt an den Kontrollen der Taliban vorbeikann.

Wo sie lebte, durften Mädchen auch nach Ankunft der Taliban zur Schule, allerdings nur, wenn sie dort von Frauen unterrichtet werden. Viele Lehrerinnen blieben allerdings aus Angst zu Hause, trauten sich nicht an ihren Arbeitsplatz.

Wut über Abschiebediskussion

Dass seine Schwester nach Österreich kommt, erwartet Ahmad nicht – vor allem wenn er Aussagen der hiesigen Regierung Revue passieren lässt. Es handle sich um eine humanitäre Krise, "sogar ärmere Länder bieten an, Flüchtlinge aufzunehmen", aber in Österreich spreche man über Abschiebungen. "Es ist eine Schande", sagt Ahmad. "Das stuft Österreich, in dem so viele tolle und engagierte Menschen leben, politisch und historisch herab."

Auch Bura macht die Diskussion, die in Österreich über Abschiebungen geführt wird, wütend. "Niemand hat das Recht, jemand in den Tod abzuschieben", sagt die Studentin. Sie will sich in Wien nicht hilflos fühlen, sondern Bewusstsein schaffen für die Lage in Afghanistan. Sie organisiert Demonstrationen gegen den Krieg mit, die nächste soll am 28. August stattfinden. "Es ist das Einzige, das wir vom Ausland aus machen können."

Der 31-jährige Salim* fühlt sich in Wien machtlos, er kann seinen Angehörigen in Afghanistan nicht einmal Geld schicken. "Alle haben Angst, die Kinder weinen, und niemand verlässt das Haus", beschreibt er die Situation seiner Familie. Er war selbst einmal Zielscheibe der Taliban, weil er bei den Präsidentschaftswahlen 2014 in der Wahlkommission saß und auch sonst seine Meinung nicht für sich behalten wollte.

Verriegelte Türen

Das hat nicht nur die Taliban, sondern auch andere Menschen aus seinem Dorf in der Nähe von Kunduz gestört. Jetzt lebt Salim in Wien und fährt die Lebensmittel eines Online-Supermarkts vor die Haustüren der Wienerinnen und Wiener. Die Türen seines Bruders in Kabul sind seit knapp zwei Wochen verriegelt, die Vorhänge geschlossen. Noch bevor die Taliban die Stadt Kunduz vor rund eineinhalb Wochen übernahmen, konnte der ehemalige Polizist mit seiner Frau und den vier kleinen Kindern nach Kabul fliehen. Dort sei es allerdings auch nicht sicher.

Salim kennt die Videos, die auf Facebook kursieren und den Menschen Angst einjagen, die sie dazu bewegen, das Haus nicht mehr zu verlassen: Frauen werden beschimpft und auf den Boden gedrückt, offenbar weil ihnen die Haare aus dem einfachen Kopftuch gerutscht sind. Uniformierte Männer müssen sich in eine Reihe legen. Dann schießen die Taliban wahllos in die Luft und fast wie beiläufig auf die Uniformierten. Mit Munition scheinen sie nicht sparen zu müssen, das legt jedenfalls der Anblick des Videos nahe. Was passieren würde, wenn Salims Familie auf die Straße ginge, weiß niemand.

Heute ist Salim froh über die Gewohnheit seiner Landsleute, alles in Vorräten zu kaufen. Auch seine Schwester und Mutter haben sich in der Wohnung in Kunduz verbarrikadiert. Der Kanister Speiseöl, das Mehl und die Dosen reichen schätzungsweise für zwei Wochen. Der Strom kommt und geht, genauso das Internet. Die Banken und Geschäfte sind noch geschlossen, aber die zwei Frauen trauen sich ohnehin nicht, Besorgungen ohne Mann zu erledigen. Den Fernseher haben sie entsorgt, damit die Taliban ihn nicht finden. Es gehen Gerüchte um, dass die Taliban nachts in die Wohnungen einbrechen und mutmaßliche Gegner holen – immer wieder hört Salim von Vermissten.

Widerstand und Proteste

Der Widerstand wurde zuletzt sichtbarer. Am Donnerstag, dem afghanischen Unabhängigkeitstag, demonstrierten zahlreiche Menschen gegen die Taliban, schwenkten die offizielle Flagge des Landes. Bura kann sich vorstellen, dass der Widerstand größer wird. "Wir wollen einfach nur, dass die Flagge der Taliban runterkommt, unsere Flagge ist schwarz, rot, grün." Afghaninnen und Afghanen würden so lange protestieren, bis das verstanden wird, auch wenn es lange dauert. Doch Bura hat Angst vor der Reaktion der Taliban: "Von Tag zu Tag wird es gefährlicher."

Ahmad denkt sogar daran, nach Afghanistan zurückzukehren: "Es ist besser, gemeinsam zu sterben", sagt er sichtlich verzweifelt. "Wenn meiner Familie etwas passiert, kann ich mir das nicht verzeihen." (Noura Maan, Maria von Usslar, 20.8.2021)