In der Nähe des Flughafens der afghanischen Hauptstadt reißt das Gedränge nicht ab. Nach wie vor wollen tausende Menschen das Land verlassen, in dem die radikalen Islamisten die Macht übernommen haben.

Foto: Wakil KOHSAR / AFP)

Die Szenen rund um den Flughafen der afghanischen Hauptstadt werden laut Bildern in sozialen Medien und auf TV-Nachrichtensendern immer chaotischer. In einem Bericht der CNN-Korrespondentin Clarissa Ward sieht man Angehörige der radikalislamistischen Taliban, die mit Peitschen unterwegs sind und durch Warnschüsse in die Luft die Menschen davon abhalten wollen, den Flughafen und somit die Evakuierungsflüge zu erreichen.

Am Freitag wurde ein Deutscher angeschossen. "Er wird medizinisch versorgt, es besteht aber keine Lebensgefahr", wie die stellvertretende deutsche Regierungssprecherin Ulrike Demmer zu Journalisten sagt: "Er wird bald ausgeflogen", fügt sie hinzu. Es handelt sich um einen Zivilisten.

Gefahr für Journalisten

Zudem mehren sich die Hinweise, dass die Taliban nach Verbündeten der US-Armee bzw. der Nato-Truppen suchen. Am Donnerstag zitierte die New York Times aus einem internen Bericht der Vereinten Nationen, wonach die radikalen Islamisten Listen mit Namen und Aufenthaltsorten jener Menschen haben, die den ausländischen Streitkräften geholfen haben. Nun berichtet die Deutsche Welle (DW), dass es offenbar auch eine gezielte Suche nach Journalisten gibt. Denn ein Angehöriger eines DW-Mitarbeiters sei bei einer solchen Razzia erschossen worden.

Der Mitarbeiter selbst befindet sich nicht mehr in Afghanistan, sondern mittlerweile in Deutschland, heißt es in dem Bericht. Mehrere deutsche Medien und Organisationen hatten bereits zuvor die Bundesregierung zu einem Visa-Notprogramm aufgefordert, das afghanische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Sicherheit bringt. DW-Intendant Peter Limbourg dazu: "Die Zeit läuft uns davon!"

Der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) liegen Berichte über "standrechtliche Hinrichtungen" durch die Taliban in Afghanistan vor. Bei den mutmaßlichen Opfern handle es sich um frühere afghanische Regierungsmitarbeiter und Sicherheitskräfte, sagte die Vizedirektorin für HRW in Asien, Patricia Gossman. Viele dieser Vorfälle fänden außerhalb der Hauptstadt Kabul in den afghanischen Provinzen statt.

Biden: "Wir werden Sie nach Hause bringen"

US-Präsident Joe Biden versprach am Freitag allen ausreisewilligen Amerikanern in Afghanistan die Ausreise. "Wir werden Sie nach Hause bringen", erklärte er. Auf Nachfrage sagte Biden, die Zusage gelte auch für Afghanen, die den US-Einsatz in Afghanistan unterstützt hätten. Seit dem Start der Mission vor etwa einer Woche seien rund 13.000 Menschen evakuiert worden. Allein am Donnerstag seien es 5700 gewesen.

Biden zufolge werde man den Einsatz von Soldaten prüfen, um Menschen für eine Evakuierung zum Flughafen von Kabul zu bringen. Eine Vergrößerung der gesicherten Zone um den Airport könnte "unerwünschte Folgen" haben, sagt er.

G7 appellieren an Taliban

Die G7-Staaten forderten aufgrund solcher Berichte die Taliban auf, sich an ihr Versprechen zu halten, die Sicherheit von Zivilisten zu garantieren. Die Außen- und Entwicklungshilfeminister aus den USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Kanada und Japan sowie Vertreter der EU hatten das Statement nach einer Telefonkonferenz formuliert.

Währenddessen beschleunigten die US-Beamten das Ausstellungsprozedere für Visa, die afghanische Ortskräfte erhalten. Allein mit Freitag sollen laut US-Angaben rund 6.000 von ihnen außer Landes gebracht worden sein. Aber Tausende warten noch auf die Ausreise. Es wurde erwartet, dass sich Präsident Joe Biden noch am Freitagnachmittag (Ortszeit) zu dem Thema äußert, doch bereits zuvor haben US-Beamte in Mediengesprächen ihrem Ärger Luft gemacht. Vor allem sei es eben ein Problem für viele, den Flughafen überhaupt zu erreichen, sagte ein Vertreter zur New York Times. Der ehemalige US-Botschafter in Afghanistan John R. Bass reiste mit einem Diplomatenteam nach Kabul, um bei der Visaausstellung zu helfen. Mehrere Diplomaten arbeiten auf US-Militärbasen in Katar und Kuwait die Flüchtlingsanträge ab.

Jene Ortskräfte, die für die Europäische Union tätig waren, sollen unter anderem zuerst nach Spanien gebracht werden. Dort wurde ein Zentrum errichtet, das bis zu 1.000 Menschen beherbergen kann, sagte Spaniens Außenminister José Manuel Albares am Freitag im Gespräch mit dem Fernsehsender RTVE. Das Zentrum soll als Eintrittstor für ebensolche Flüchtlinge und ihre Familien in die EU fungieren. Die Menschen würden anschließend auf mehrere Mitgliedsstaaten aufgeteilt werden.

Angst um Minderheiten

Innerhalb Afghanistans fürchten vor allem Angehörige von religiösen und ethnischen Minderheiten die Gewalt durch die neuen, alten Machthaber. Vor allem Mitglieder der schiitischen Volksgruppe der Hazara gerieten in der Vergangenheit ins Visier der Taliban. Bereits im Vorfeld der Machtübernahme kam es offenbar zu gezielten Tötungen, wie die Menschenrechtsorganisation Amnesty International nun berichtet. Im Juli soll es zu gewalttätigen Zwischenfällen in der Provinz Ghazni gekommen sein. In seinem Dorf sollen sechs Hazara-Männer erschossen und drei zu Tode gefoltert worden sein, so Amnesty in einer Aussendung am Freitag.

"Die kaltblütige Brutalität dieser Tötungen erinnert an die Vergangenheit der Taliban und ist ein erschreckender Hinweis darauf, was die Taliban-Herrschaft bringen kann", so Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International. (Bianca Blei, 20.8.2021)