Vertriebene Afghaninnen und ihre Kinder aus Kunduz und Takhar sind in Kabul gestrandet.

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Militärflugzeuge bringen eine ausgewählte Anzahl an Menschen aus Afghanistan. In dieser ukrainischen Maschinen waren 83 Personen an Bord.

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Kabul – Die US-Regierung hat Medienberichte über die Gefahr eines Anschlags der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) am Flughafen Kabul oder in der Umgebung bestätigt. "Die Bedrohung ist real, sie ist akut, sie ist anhaltend", sagte der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, am Sonntag im Sender CNN. "Wir arbeiten intensiv mit unseren Geheimdiensten zusammen, um herauszufinden, woher ein Angriff kommen könnte."

Man nehme die Warnungen "absolut todernst". Die radikal-islamischen Taliban, die vor ein paar Tagen zum Ende des Abzugs aller ausländischen Truppen die Kontrolle in fast ganz Afghanistan wieder erlangt haben, und der regional aktive Zweig des IS sind verfeindet und haben in der Vergangenheit gegeneinander gekämpft.

Etliche Menschen bei Gedränge am Flughafen gestorben

Auch sonst bleibt die Lage am Flughafen in Kabul äußerst angespannt. Nach Angaben der britischen Regierung sind in Kabul sieben Menschen im Gedränge rund um den Flughafen ums Leben gekommen. Das bestätigte das Verteidigungsministerium des Landes, nachdem bereits zuvor ein Korrespondent des britischen Senders "Sky News" von chaotischen Szenen vor den Toren des Flughafens berichtete. Dabei sollen Menschen am Samstag "gequetscht" worden seien. Viele seien dehydriert und verzweifelt gewesen. Seinem Bericht zufolge konnten Sanitäter bei mehreren Menschen keine Lebenszeichen mehr feststellen, woraufhin diese in weiße Tücher gehüllt wurden.

Insgesamt sollen in den vergangenen Tagen am Flughafen Kabul bereits zwanzig Menschen gestorben sein, das gab ein Sprecher der Nato bekannt. In dem Chaos auf dem Flughafen sollen nach Berichten örtlicher Medien auch mehrere Kinder verloren gegangen sein.

Tausende warten am Flughafen

Unter den Toten außerhalb des Flughafens war einem Bericht der "New York Times" zufolge auch ein zweijähriges Mädchen. Die Tochter einer afghanischen Übersetzerin, die für eine amerikanische Firma in Kabul gearbeitet haben soll, wurde demnach am Samstag zu Tode getrampelt. "Ich habe reinen Terror gefühlt", sagte die Frau der Zeitung in einem Telefoninterview aus Kabul. "Ich konnte sie nicht retten."

Am Sonntag sollen sich laut britischem Verteidigungsministerium erneut tausende Menschen vor dem Flughafen in der afghanischen Hauptstadt versammelt haben, um das Land zu verlassen. Ein Sprecher bezeichnete die Bedingungen vor Ort als "nach wie vor äußerst schwierig". US-Soldaten hielten zugleich Menschen ohne Papiere davon ab, auf das Flughafengelände zu gelangen.

Auch Österreicher betroffen

Amir* versucht seit Tagen mit seiner Frau und seinem Bruder zu einem Flug außer Landes zu gelangen. Der junge Mann war vor ein paar Jahren nach Österreich geflohen und besitzt die österreichische Staatsbürgerschaft. Doch das österreichische Außenministerium hat keine Kontrolle über die Sicherheitslage vor dem Gebäude.

In E-Mails – die dem STANDARD als Screenshots vorliegen – wird Amir aufgefordert, in den frühen Morgenstunden zu Treffpunkten zu kommen. Am Sonntag hätte er einen Platz auf einer ungarischen Maschine erhalten sollen, doch wieder klappte es nicht. Laut Amir verwies die österreichische Kontaktperson auf die ungarische, und diese meldete sich nicht unter der angegebenen Nummer. Nach mehreren Stunden verließen Amir und seine Familie das Gelände. Ein Freund hatte sich im Gedränge verletzt. Sie begaben sich an einen sicheren Ort, den sie alle paar Stunden wechseln, um nicht den Taliban in die Hände zu fallen. Sie gehören der schiitischen Volksgruppe der Hazara an, die immer wieder Ziel des Taliban-Terrors gewesen ist.

Die britische Regierung setzt sich dafür ein, die Rettungsmission über den 31. August hinaus zu verlängern. "Vielleicht dürfen die Amerikaner länger bleiben, dann werden sie unsere volle Unterstützung haben, wenn sie das tun", schrieb der Verteidigungsminister Ben Wallace am Sonntag in einem Gastbeitrag in der "Mail on Sunday". Die USA hatten eigentlich Ende des Monats den Abzug ihrer Truppen abschließen wollen.

Für den Evakuierungseinsatz verpflichten die USA in einem seltenen Schritt auch die private Flughafengesellschaften, und zwar 18 Flugzeuge von sechs US-Airlines, teilte das Pentagon am Samstag mit. Diese Maschinen sollten nicht den Flughafen in Kabul ansteuern, sondern für den Weitertransport von Evakuierten aus Zwischenstationen eingesetzt werden.

Am Dienstag lädt die britische Regierung zu einem G7-Treffen, um die Krise in Afghanistan zu diskutieren.

Humanitäre Helfer wollen Arbeit fortsetzen

Der Großteil der humanitären Helfer will seine Arbeit in Afghanistan auch nach der Machtübernahme der Taliban fortsetzen. Alle Organisationen der Vereinten Nationen, wie etwa das Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR), wollen nach Informationen der "Welt am Sonntag" weiter in dem krisengebeutelten Land bleiben. Nach Angaben des Uno-Informationsbüros in Genf handle es sich dabei um etwa 300 ausländische und rund 3.000 einheimische Mitarbeiter.

"In vielen Provinzen wurden wir von den Taliban gebeten, dass wir bleiben und unsere nachweislich erfolgreiche Arbeit für Kinder fortsetzen", so das Kinderhilfswerk Unicef gegenüber der Zeitung. Laut Einschätzung des Uno-Büros in Kabul in dem "WamS"-Bericht wollen auch die meisten der über 150 nicht-staatlichen Hilfsorganisationen (NGOs) vor Ort bleiben. Dies betreffe mehrere Tausend Mitarbeiter.

Nach Angaben von Unicef würden – unabhängig von den politischen Entwicklungen – bereits fast zehn Millionen Mädchen und Buben in Afghanistan humanitäre Hilfe benötigen.

Das Welternährungsprogramm (WFP) habe alleine in dieser Woche 80.000 Menschen mit Essen versorgen können. Insgesamt konnten 400.000 Flüchtlinge innerhalb des Landes verpflegt werden, so die Organisation. Aktivitäten der Organisation mussten in einigen Gegenden kurzzeitig wegen Kämpfen und Gewalt unterbrochen werden. Die Hilfslieferungen sollen nach Angaben einer Sprecherin kommende Woche wieder fortgesetzt werden.

Vorbereitung auf Fluchtbewegung

Indes hat die Europäische Kommission die EU-Länder aufgerufen, sich nach der Machtübernahme der Taliban auf mögliche Fluchtbewegungen aus Afghanistan vorzubereiten. "Wir sollten nicht die gleichen Fehler wie 2015 machen. Wir sollten nicht warten, bis die Menschen an den EU-Außengrenzen stehen", sagt die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson der "Welt am Sonntag".

Zwar würden sich aktuell nicht viele Menschen nach Europa bewegen, "aber die Situation ändert sich jetzt schnell und wir müssen auf verschiedene Szenarien vorbereitet sein", sagt Johansson. Vor einer Woche hatten die radikalislamischen Taliban die Macht in Afghanistan wieder an sich gerissen. Seitdem versuchen unzählige Menschen verzweifelt, das Land zu verlassen.

UNHCR-Umsiedlungsprogramm

Die EU-Innenkommissarin forderte, man müsse die Afghanen innerhalb des Landes und in den Nachbarländern der Region unterstützen. Die schwedische Politikerin rief aber auch alle EU-Länder auf, über das Umsiedlungsprogramm des Uno-Flüchtlingshochkommissariates mehr Menschen aus Afghanistan aufzunehmen. "Die EU-Kommission ist bereit, solche Programme zu koordinieren und Finanzhilfen bereitzustellen."

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hatte zuvor bei einem Besuch in Spanien einen ähnlichen Appell an alle Staaten gerichtet, die an der Afghanistan-Mission beteiligt waren. Sie stellte finanzielle Hilfe für EU-Mitglieder in Aussicht, die Flüchtlinge aufnehmen. Von der Leyen stellte zudem klar, dass es derzeit zwar "operationelle Kontakte" zu den Taliban gebe, "um Leben zu retten". Es gebe aber keinen politischen Dialog und demzufolge auch "keinerlei Anerkennung der Taliban". Die von der Kommission vorgesehene humanitäre Hilfe für Afghanistan in Höhe von 57 Millionen Euro solle außerdem zwar aufgestockt werden, sei aber an die Einhaltung von Menschenrechten und der Rechte von Minderheiten und Frauen gebunden.

Laut dem spanischen Außenminister José Manuel Albares haben sich "fast alle EU-Staaten" bereit erklärt, Flüchtlinge aus dem Lager aufzunehmen. Die Afghanen sollen zunächst eine "befristete Einreiseerlaubnis" für Spanien erhalten, bevor ihnen von den verschiedenen Ländern, in denen sie sich niederlassen sollen, der Flüchtlingsstatus zuerkannt wird. (APA, red, 22.8.2021)