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Menschen, die aus Afghanistan ausgeflogen werden, kamen in der Nähe von Washington DC in einer Übergangsunterkunft an.

Foto: AP Photo/Patrick Semansky

Die Menschen sollen nicht lange in dem College bleiben, sondern in Auffanglager gebracht werden.

Foto: Richard Gutjahr

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Vor dem Weißen Haus sammeln sich einige Menschen, um gegen Bidens Afghanistan-Politik zu demonstrieren.

Foto: REUTERS/Ken Cedeno

Es ist kurz nach vier Uhr morgens, als die Boeing 777 aus Katar am internationalen Flughafen von Washington DC eintrifft. Für die meisten der rund 300 Passagiere sollte es das erste Mal sein, dass sie Fuß auf amerikanischen Boden setzen. Amerika, dieses mystische Land, das sie bislang nur aus Filmen kannten. Amerika, das urplötzlich hunderttausende Soldaten nach Afghanistan schickte und ihr ganzes Leben auf den Kopf stellte. Amerika, ihre neue … Heimat?

Keine zehn Tage ist es her, da stand Mohammed noch in seinem Möbellager in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Das Telefon klingelte. Ein Anruf der US-Botschaft. Er solle sich so schnell wie möglich zum Militärstützpunkt am Flughafen begeben. Mohammed ist ein einheimischer "Contractor", einer von rund 16.000, die das US-Verteidigungsministerium in Afghanistan beschäftigte. Der 28-Jährige hatte die amerikanischen Streitkräfte mit Schreibtischen und Schränken beliefert – und gelegentlich auch mit Informationen.

Nur ein Codewort

Über Nacht waren er und seine Familie zur Zielscheibe geworden. Freiwild der Taliban, die jetzt auch wieder in Kabul offen in Erscheinung traten. Zwei Tage sollte es dauern, bis sich Mohammed zusammen mit seiner Mutter, seiner Schwester und deren Familie zum Flughafen traute. Ein Codewort, das sei alles gewesen, was ihm der Botschaftsmitarbeiter mit auf den Weg gegeben habe. Damit würden er und seine Familie am Checkpoint Zugang zum amerikanischen Teil des Flughafens erhalten.

Jetzt sitzt Mohammed auf dem Feldbett einer improvisierten Notunterkunft, die in einem Community-College, etwa eine halbe Autostunde außerhalb von Washington, eingerichtet wurde. Er sortiert die Familiendokumente, die er in einer durchsichtigen Plastikmappe aufbewahrt. Schon morgen wird es für ihn und seine Familie weitergehen nach El Paso, Texas. Dort soll eines der drei langfristigen US-Auffanglager für die Afghanistan-Flüchtlinge entstehen.

Nachdem der US-Kongress für Hilfskräfte in Afghanistan die sogenannten SIV (Special Immigrant Visa) ins Leben gerufen hatte, seien erst 16.000 dieser Einreisedokumente bewilligt worden. Weitere 18.000 befänden sich "in der Pipeline", heißt es, ein anderes Wort für Bürokratiestau. Derweil hat das International Rescue Committee ermittelt, dass im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte rund 300.000 Zivilisten in Afghanistan die US-Truppen unterstützt hatten.

Spenden für die neue Generation

Der Parkplatz vor dem College-Gebäude füllt sich. In der Nachbarschaft hat sich herumgesprochen, das hier die Flüchtlinge untergebracht sind, über die seit Tagen in den Nachrichten gesprochen wird. Die Menschen haben ihre Trucks mit Kleidung, Wasserflaschen und Spielzeug vollgeladen. Ein bärtiger Mann in gelber Warnweste steht an der Zufahrtstraße und dirigiert den Verkehr, zeigt ihnen, wo sie ihre Spenden abgeben können.

Sear war selbst Flüchtling und stammt aus Kabul. Im Alter von zehn Jahren ist seine Familie nach Amerika immigriert. Inzwischen besitzt er die amerikanische Staatsbürgerschaft, spricht akzentfrei Englisch und arbeitet als Systemadministrator bei Amazon. Er ist heute früh hierhergekommen, weil er der neuen Flüchtlingsgeneration aus Afghanistan helfen wollte, sich in der fremden, neuen Heimat besser zurechtzufinden.

"Wer kommt als Nächstes?"

Jetzt meldet sich ein älterer Mann per Megafon zu Wort. Abdul Ebadi hat eine wichtige Funktion an diesem Tag. Er dient heute hier als Dolmetscher zwischen dem lokalen Organisationsteam und den Flüchtlingen. Auch er war einst aus Afghanistan in die USA gekommen. Vor 30 Jahren waren es die Russen, die ihre Truppen abgezogen und das Land den Terroristen und dem Chaos überlassen hatten.

"Erst kamen die Briten, dann die Russen, dann die Amerikaner", sagt Ebadi. "Und jetzt? Wer kommt als Nächstes?" All diese Nationen seien nach Afghanistan gekommen und hätten dort nichts weiter hinterlassen als Probleme. Ins gleiche Horn bläst Veronica. Die US-Veteranin war für die Airforce gleich zweimal in Bagram stationiert. Sie sei Patriotin, sagt sie, aber was da gerade in Afghanistan geschehe, sei nicht richtig.

Biden habe gewusst, dass die afghanische Armee nicht in der Lage sei, sich selbst zu verteidigen. Erst im April gab ein ranghoher General vor dem Senatsausschuss zu Protokoll, er zweifle an der Fähigkeit der afghanischen Luftwaffe, sich ohne die Unterstützung der Amerikaner lange halten zu können. Dass der US-Präsident jetzt überrascht tue und auch noch versuche, die afghanische Armee als feige darzustellen, macht Veronica wütend.

Demonstration vor dem Weißen Haus

Die ehemalige Soldatin zieht ein Transparent hinter dem Rücksitz ihres Autos hervor. Auf dem Karton hat sie die Worte "geplant", "sicher" und "ordentlich" aufgemalt. Worte ihres Präsidenten und zugleich obersten Befehlshabers über die Streitkräfte. Mit ihrem Schild ist Veronica zum Weißen Haus gefahren, wo sie auch heute wieder demonstrieren will. Für eine Verlängerung des Einsatzes, bis alle Amerikaner, aber auch alle afghanischen Hilfskräfte in Sicherheit seien.

Veronica sorgt sich auch vor neuen Terroranschlägen. Al-Kaida und der Islamische Staat (IS) seien noch immer in Afghanistan aktiv. Das hatte auch John Kirby, Sprecher des Pentagon, erst kürzlich in einer Pressekonferenz so formuliert. Veronica erinnert sich: "Im September vor 20 Jahren, als die Flugzeuge in die Twin Towers flogen, hat es überall geheißen: never forget!"

Das Problem, das man heute in Afghanistan und damit auch hier in Amerika habe, ließe sich in zwei Worten ausdrücken, so die junge Frau: "We forgot." Wir haben vergessen. (Richard Gutjahr aus Washington, 23.8.2021)