Nach elf Monaten Untersuchungshaft kam W. schließlich "aus Mangel an Beweisen" wieder frei.

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Was vor elf Monaten in jener Nachbarschaft in der US-Metropole Chicago genau geschah, bleibt weiter Gegenstand von Ermittlungen. Lediglich zwei faktische Feststellungen lassen sich heute darüber machen. Erstens: Der 25-jährige Safarian H. verstarb an diesem Tag an den Folgen eines Kopfschusses. Zweitens: Der 65-jährige Michael W. landete, vor allem dank der Ausweitung einer KI-gestützten Software namens "Shotspotter", in weiterer Folge elf Monate in Untersuchungshaft.

Heute ist W. wieder auf freiem Fuß, schreibt Associated Press (AP) in einer gemeinsam mit dem Pulitzer Center for Crisis Reporting erstellten Aufarbeitung der Ereignisse. Seine Anwälte erheben schwere Vorwürfe gegen die Behörden und das Unternehmen hinter dem Programm, das die Polizeiarbeit unterstützen soll.

Fahrt mit Folgen

Nach seiner Schilderung war Michael W. an jenem Mai-Abend im Auto unterwegs, um Zigaretten zu kaufen, als H. ihm zuwinkte und um eine Mitfahrgelegenheit bat. Da er ihn aus seiner Nachbarschaft kannte, ließ W. ihn einsteigen. Kurz darauf hielt nahe einer Kreuzung ein anderer Wagen neben den beiden. Der Beifahrer soll eine Waffe gezogen und geschossen haben.

In einem Werbeclip heben Polizeichefs die angeblichen Vorteile von Shotspotter hervor.
shotspotter

Die Kugel verfehlte W., aber traf H. in den Kopf. W. brachte seinen Passagier ins nahe gelegene St. Bernard-Krankenhaus, wo Ärzte eine Notoperation durchführten und dann tagelang um sein Leben kämpften. Vergebens – am 2. Juni wurde H., der erst zwei Wochen vor dem Vorfall eine Schießerei an einer Bushaltestelle überlebt hatte, für tot erklärt.

Shotspotter lieferte wichtigstes Beweisstück

Drei Monate später wurde die Polizei bei W. vorstellig. Man wolle ihn für eine Befragung auf das Revier mitnehmen, er habe nichts zu befürchten, erinnert sich W., der in jüngeren Jahren bereits dreimal – wegen versuchten Mordes, Raubes sowie des unerlaubten Abfeuerns einer Schusswaffe – im Gefängnis war. Er wurde auf der Station von einem Ermittler befragt und anschließend in eine Zelle gesperrt. Man teilte ihm mit, dass man ihn wegen Mordes anklagen wolle. "Als er mir das gesagt hat, ist etwas in mir gestorben", erinnert sich W.

Dass W. in Untersuchungshaft landete, war vor allem Shotspotter zu verdanken. Die Software soll Schussgeräusche erkennen und per Triangulation den Ursprungsort ausfindig machen. An jenem Abend ortete das Programm ein lautes Geräusch nahe des Tatorts, was die Polizei als Stütze ihrer Theorie ansah, dass W. seinen Passagier in seinem Auto erschossen hatte.

Weiters zog man ein Überwachungsvideo heran, in dem W.s Auto bei Rotlicht über eine Kreuzung fuhr. Auch ein anderes Auto ignorierte das Stopplicht. Weil dessen Fenster jedoch geschlossen aussahen, sei es laut den Ermittlern undenkbar, dass aus diesem Wagen geschossen worden sei. Eine Waffe war am Tatort nicht gefunden worden, in den Akten wurden weder Augenzeugen benannt, noch ein mögliches Motiv von W. vermerkt.

Immer wieder Zweifel

Shotspotter ist mittlerweile in zahlreichen US-Städten im Einsatz. In rund 200 Fällen wurden von der Software ausgespuckte Daten vor Gericht als Beweis herangezogen, alleine 91-mal in den vergangenen drei Jahren. Immer wieder gab es aber auch Vorwürfe und Bedenken wegen Falscherkennungen. In manchen Fällen wurde der Vertrag mit dem Unternehmen daher auch nicht mehr verlängert. In Fall River, Massachussetts, soll das System eine Fehlerquote von über 50 Prozent produziert und alle sieben Schüsse, die 2018 in einem Mordfall in der Innenstadt abgegeben wurden, verpasst haben. 2014 wurden Shotspotter-Daten als Beweismittel in einem Fall in Kalifornien abgelehnt. Der Richter erklärte dies damit, dass es der Technologie an Akzeptanz in den "relevanten wissenschaftlichen Communities" fehle.

Auch an der Arbeitsweise der Firma gab es bereits Kritik. 2016 wurde eine Aufnahme, die das System als "Helikopter" klassifiziert hatte, nachträglich manuell zu einem Schuss umdeklariert. Das Unternehmen erklärte, dass dies auf Bitte der Polizei getan wurde und man darauf vertraue, dass die Behörden ehrliche Angaben machten. Ein Jahr später wurde in einem anderen Fall der vermutete Ursprung eines Schussgeräusches nachträglich um einen Häuserblock verschoben, sodass er auf einmal zum Tatort passte. Die Zuordnungen von Shotspotter seien ohnehin nicht als wasserfeste Schuldbeweise gedacht, sondern lediglich als "Ausgangspunkt" für Ermittlungen, beteuert der Hersteller. Das System sei natürlich nicht perfekt.

Einstufung und Ort nachträglich geändert

Ungereimtheiten gibt es auch bei den Shotspotter-Daten von W., wie aus den vorbereitenden Anhörungen hervorging. Was als "Schussgeräusch" in den Akten gelandet war, war von Shotspotter ursprünglich mit 98-prozentiger Sicherheit als "Böller" eingeordnet worden. Ein Angestellter änderte die Klassifikation nicht einmal eine Minute nach Übermittlung der Aufnahme. Der Ursprungsort war später ebenfalls verschoben worden, und zwar gleich um rund 1,6 Kilometer auf jene Straße, auf der W. zu dieser Zeit gefahren war. Laut Shotspotter sei dies lediglich eine Fehlerkorrektur gewesen, um die Sensordaten korrekt abzubilden.

Der verantwortliche Mitarbeiter war vor seiner Arbeit bei dem Unternehmen über 20 Jahre lang für das Chicago Police Department tätig. Auf die Frage, wie man die eigenen Mitarbeiter im Umgang mit den Daten ausbilde, erwiderte das Unternehmen, dass man sie im laufenden Betrieb anlerne und es keine offiziellen Trainingsunterlagen gebe. Im Bericht von Shotspotter fanden sich darüber hinaus widersprüchliche Informationen. Einerseits gibt man an, Probleme damit zu haben, innerhalb von Autos abgegebene Schüsse zu verorten. Andererseits wurde in diesem Fall sehr wohl ein Schuss dem Auto von W. zugeordnet. Gegenüber AP erklärte ein Vertreter der Firma dazu vage, dass dies "unter bestimmten Bedingungen" möglich sei.

Eine unabhängige Möglichkeit, die Funktionsweise der Shotspotter-Algorithmen nachzuvollziehen, gibt es aber nicht. Denn die Firma legt ihren Quellcode weder offen, noch gewährt sie anderweitig Einblick darauf. Angaben, dass das Programm zur Senkung von Waffengewalt beitrage, wurden von Forschern bezweifelt.

Verfahren aus Beweismangel eingestellt

Am 22. Juli, elf Monate nach Beginn seiner Untersuchungshaft, verkündete der Richter schließlich, dass W. auf freien Fuß zu setzen sei. Das Verfahren gegen ihn werde – aus Mangel an Beweisen – eingestellt.

"Mein Mandant hat es nicht verdient, dass ihm seine Freiheit auf Basis von unwissenschaftlichen Beweisen genommen wurde", erklärte einer von W.s Verteidigern. Es gebe ohnehin schon oft genug falsche Verurteilungen auf Basis fehlerhafter forensischer Nachweise. Der Fall könnte für Shotspotter nun zum Bumerang werden. In den nächsten Wochen soll eine Anhörung stattfinden, in der es darum gehen wird, ob man eine Reihe von Dokumenten betreffend der eigenen Arbeitsweise aushändigen muss, die man bislang geheim gehalten hat.

W. ist von seinem Gefängnisaufenthalt aber gezeichnet. Hinter Gittern steckte er sich gleich zweimal mit Covid-19 an und entwickelte zudem einen Tremor in einer Hand. Er fühle sich nicht mehr sicher in seiner Stadt, sagt er. Bei jedem Spaziergang halte er nun Ausschau nach den kleinen Mikrofonen. Diese seien nur in schwarzen Wohngegenden installiert, ist er überzeugt und fragt sich, wie viele Afroamerikaner deswegen noch in einer ähnlichen Situation wie er landen werden. (gpi, 23.8.2021)