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Bis heute wird das politische Leben in Bosnien-Herzegowina, hier die Hauptstadt Sarajevo, von ethnischem Denken geprägt.

Foto: REUTERS/Dado Ruvic/File Photo

Die Situation erinnert an das Buch "Farm der Tiere" von George Orwell – frei nach dem Motto: "Alle Bosnier sind gleich, aber manche sind gleicher." Ähnlich wie dort beschrieben haben einige Bosnier und Herzegowiner durch die Nachkriegsverfassung Privilegien bekommen und deshalb die Macht, die Gesetze nach ihren Wünschen zu gestalten. Diese Nationalisten, die seit Jahrzehnten von der Mehrheit gewählt werden, verhindern die Gleichheit aller und sehen den Staat als eine Komposition von drei Ethnocamps, in der Bosniaken, Serben und Kroaten nach dem Herdenprinzip regiert werden sollen.

Wer ein Albaner, Rom oder Jude ist, darf in Bosnien-Herzegowina überhaupt nicht ins Staatspräsidium oder ins Haus der Völker gewählt werden. Nur wer sich selbst als Bosniake, Serbe oder Kroate bezeichnet, gehört zu den Privilegierten. Seit 2009 fordert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, diese Benachteiligung und Ungerechtigkeit in der Verfassung zu beenden. Die EU-Delegation unter der Leitung des Österreichers Johann Sattler will nun versuchen, die Bürger stärker zu beteiligen und gleichzeitig Druck auf die Politiker aufzubauen, um endlich die Diskriminierung zu beenden.

4.000 Bürger angeschrieben

"Das Konzept der Bürgerbeteiligung wird bereits in vielen Staaten der EU angewendet", sagt der EU-Sondergesandte Sattler zum STANDARD. "Die bosnischen Bürger werden von den lokalen Politikern bisher nicht bedacht. Vielen ist es zu wenig ist, alle paar Jahre ein Kreuzerl an der Wahlurne zu machen. Deshalb haben wir nun mit Experten aus der Schweiz und Belgien 4.000 Bürger angeschrieben, um an dem politischen Prozess mitzuwirken."

Das Meinungsforschungsinstitut Ipsos stellte die Daten zur Verfügung, um Leute auszusuchen, die möglichst gut die bosnisch-herzegowinische Realität abbilden. Es wurde also auf Regionen, Zugehörigkeit zu Volksgruppen, soziale Schichten, Alter und Geschlecht Bedacht genommen. Von jenen Bürgern, die sich zurückmelden, werden 42 ausgesucht, die eine Art Bürgerrat bilden sollen, 15 weitere Personen können einspringen, falls jemand ausfällt. Die Bürgerräte werden geschult und sollen dann an zwei Wochenenden im Oktober gemeinsam konkrete Vorschläge erarbeiten, wie man die Verfassung ändern könnte.

Im Parlament diskutiert

Diese Vorschläge werden sodann dem Parlament unterbreitet. "Die EU-Delegation wird dafür sorgen, dass sie dort auch diskutiert werden", so Sattler zum STANDARD. "Inhaltlich geht es darum, die Diskriminierung bei der Wahl des Staatspräsidiums und des Hauses der Völker zu beenden." Noch dieses Jahr – so der Wunsch der EU-Delegation – sollte dann die Verfassung geändert werden, damit kommendes Jahr bei den Wahlen alle Bürger gleich behandelt werden können. Es gibt bereits fünf Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die wegen des Widerstands der Nationalisten aber bisher nicht umgesetzt werden.

So werden bisher etwa jene Bosnier und Herzegowiner ausgeschlossen, die nicht dem vorherrschenden völkischen Konzept folgen und sich nicht ethnisch definieren, sondern die einfach Bosnier und Herzegowiner sein wollen – und nicht Bosniaken, Serben oder Kroaten.

Nicht ethnisch definieren

Dass gerade diese Menschen diskriminiert werden, zeigt der Fall von Azra Zornić, die sich als Bürgerin des Staates versteht und sich nicht ethnisch definiert. Auch sie darf nur deshalb nicht kandidieren, weil sie sich weigert, in solchen Kategorien zu denken. In einem Urteil zu ihrem Fall aus dem Jahr 2014 kommt der Gerichtshof zu der Auffassung, "dass die Zeit für ein politisches System gekommen ist, das jedem Bürger von Bosnien und Herzegowina das Recht einräumt, bei den Wahlen zum Präsidenten und zum Haus der Völker Bosniens und Herzegowinas zu kandidieren", und zwar ohne Diskriminierung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit und ohne Sonderrechte für Mitglieder der konstitutiven Völker – also der Bosniaken, Serben und Kroaten.

Wieso sollte wirklich jemand im Europa des 21. Jahrhunderts bessergestellt sein, bloß weil er sich einer sogenannten Ethnie zugehörig fühlt, als jemand, der dies nicht tut? Die sogenannte ethnische Zugehörigkeit ist eine Frage der Selbstdefinition, von außen kann diese nicht erfolgen, nur wenn sich selbst jemand einer Gruppe zugehörig fühlt, gilt er auch als zugehörig. Prinzipiell kann sich jeder Bürger in Bosnien-Herzegowina als Serbe, als Kroate, als Bosniake oder als sonst irgendjemand definieren. Gemäß der Verfassung sind aber nur Personen berechtigt, für die Wahl zum Haus der Völker und zum Präsidenten von Bosnien und Herzegowina zu kandidieren, die ihre Zugehörigkeit zu einem "konstituierenden Volk" erklären.

Die anderen

Minderheiten wie etwa Juden, Albaner oder Roma und jene, die sich nicht ethnisch definieren, werden "die anderen" genannt – auf Bosnisch: ostali. Diese "ostali" dürfen weder im Landesteil Republika Srpska noch im Landesteil Föderation für ein Amt im Staatspräsidium oder im Haus der Völker kandidieren, obwohl es sich oft um die wohl weltoffensten Bosnier und Herzegowiner handelt, die den europäischen Werten am nächsten stehen, weil sie bürgerliche Gleichheit und nicht kollektivistisches Ethno-Denken in den Vordergrund stellen.

Diskriminiert werden aber auch Serben, die im Landesteil Föderation leben, wie der Fall "Svetozar Pudarić gegen Bosnien-Herzegowina" aus dem Jahr 2020 zeigt. Der mittlerweile verstorbene Herr Pudarić, der in Sarajevo lebte, konnte nicht für ein Amt im Staatspräsidium kandidieren, weil nur jene Serben, die im Landesteil Republika Srpska leben, dieses Recht haben. Auch in diesem Fall gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem Kläger recht und forderte die Gesetzgeber auf, die Verfassung zu ändern. Denn der Fall Pudarić offenbart einmal mehr die rassistische und diskriminierende Verfassung des Landes.

Rassismus in der Republika Srpska und der Föderation

Umgekehrt dürfen aber auch keine Bosniaken oder Kroaten, die in der Republika Srpska leben, dort für ein Amt im Staatspräsidium oder im Haus der Völker kandidieren. Denn laut der Verfassung darf nur das serbische Mitglied im Staatspräsidium aus der Republika Srpska kommen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kam deshalb auch im Fall des Muslimen Ilijaz Pilav aus Srebrenica im Jahr 2016 zu der Ansicht, dass sein Ausschluss von der Präsidentschaftswahl auf einer Kombination von ethnischer Herkunft und Wohnort beruhe, was einer diskriminierenden Behandlung gleichkomme.

Die EU verlangt seit vielen Jahren die Angleichung der Verfassung an die europäischen Werte. Sattler moniert, dass es eine "Sünde" wäre, wenn man die Gelegenheit für eine Verfassungsreform nun nicht nutzen würde. Immerhin gebe es eine erhöhte internationale Aufmerksamkeit. Auch der derzeitige US-Botschafter Eric Nelson unterstützt die Initiative.

Zweidrittelmehrheit notwendig

Bislang sieht es aber nicht danach aus, als gäbe es dafür die notwendige Zweidrittelmehrheit im Parlament, weil die nationalistischen Parteien gar keinen bürgerorientierten Staat wollen. Manche ihrer Vertreter wollen sogar das Land noch mehr spalten, wie etwa der Chef der größten nationalistisch-kroatischen Partei HDZ, Dragan Čović, der einen eigenen Wahlbezirk für Kroaten im Landesteil Föderation fordert. Čović droht sogar damit, ein Veto gegen das Budget einzulegen, damit die Wahlen nächstes Jahr nicht abgehalten werden können, falls das Wahlrecht zuvor nicht nach seinen Wünschen geändert wird. Allerdings könnte in dem Fall auch der Hohe Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft, Christian Schmidt, ein Budget beschließen.

Wichtig wäre jedenfalls, dass neben der Änderung der Verfassung auch das Wahlprozedere so modifiziert wird, dass Fälschungen und Manipulationen besser verhindert werden können. So sollen etwa die Wahlbeisitzer nicht mehr – wie derzeit noch möglich – am Tag vor der Wahl von den Parteien ausgetauscht werden können, erklärt Sattler. Zudem sollten die Wahlresultate direkt nach der Wahl an die Zentrale weitergeleitet werden, indem sie etwa eingescannt werden, um keine Zeit für Manipulationen zu lassen. Wenn man zudem eine elektronische Registrierung der Wähler durchführen würde, könnte man verhindern, dass Leute mehrmals mit ein und demselben Ausweis zur Wahl gehen.

Erst elf Prozent doppelt geimpft

Zurzeit bemüht sich der Vertreter der EU darum, dass mehr Bosnier und Herzegowiner sich impfen lassen – bislang sind erst zehn Prozent vollständig immunisiert, 15 Prozent haben eine Dosis bekommen. Die Infektionszahlen steigen sprunghaft an. Viele befürchten einen schlimmen Herbst und Winter in jenem europäischen Land, in dem prozentuell am meisten Menschen an Covid-19 gestorben sind.

Ausreichend Vakzine gibt es mittlerweile in Bosnien-Herzegowina. Allein die EU hat 1,3 Millionen Impfdosen gespendet. Sattler verweist darauf, dass diese aber ein Ablaufdatum haben und es auch wichtig sei, sich impfen zu lassen, um Hospitalisierungen zu vermeiden. "Wir wissen, dass 90 Prozent der Hospitalisierten vorher nicht geimpft wurden", versucht er mehr Bürger zu überzeugen. (Adelheid Wölfl, 23.8.2021)